Bei Anbruch der Nacht
deinen Pflichten.«
Vielleicht war sie im Begriff, noch etwas zu sagen, aber ich legte auf und marschierte entschlossen zurück in die Küche, bevor mein Tatendurst womöglich wieder verflog. Wirklich fühlte ich mich regelrecht beschwingt und konnte mir gar nicht mehr erklären, wie es hatte passieren können, dass ich in einen Zustand derartiger Verzagtheit geraten war. Ich durchsuchte die Küchenschränke und reihte sämtliche Gewürze und Kräuter, die ich brauchte, ordentlich neben der Kochstelle auf. Dann maß ich die Zutaten ab und schüttete sie ins Wasser, rührte kurz um und machte mich dann auf die Suche nach dem Stiefel.
Der Schrank unter der Treppe barg einen ganzen Haufen Schuhwerk in beklagenswertem Zustand. Nach kurzem Stöbern entdeckte ich ein Exemplar, das zweifellos zu dem von Charlie genannten Paar gehörte – einen besonders abgenutzten Stiefel mit einer Kruste aus uraltem Schmutz um den Absatz. Mit zwei Fingern trug ich ihn in die Küche und stellte
ihn mit der Sohle nach oben in den Topf. Dann zündete ich eine mittelgroße Flamme an, setzte mich an den Tisch und wartete, bis das Wasser zu kochen anfing. Als schon wieder das Telefon läutete, widerstrebte es mir, den Topf sich selbst zu überlassen, aber dann hörte ich Charlies Stimme ewig auf den Anrufbeantworter quasseln, und schließlich drehte ich die Flamme herunter und ging ans Telefon.
»Was hast du gesagt?«, fragte ich. »Geklungen hat es ausgesprochen selbstmitleidig, aber ich war so beschäftigt, dass ich es nicht mitgekriegt habe.«
»Ich bin im Hotel. Nur drei Sterne. Unglaubliche Frechheit! Ein Riesenunternehmen wie dieses! Außerdem ist es ein beschissen winziges Zimmer!«
»Aber du bleibst doch nur ein paar Nächte …«
»Hör zu, Ray, ich war vorhin nicht vollkommen ehrlich zu dir. Das ist nicht fair dir gegenüber. Schließlich tust du mir einen Gefallen, du versuchst die Sache mit Emily und mir wieder geradezubiegen und gibst dein Bestes für mich, während ich nicht hundertprozentig aufrichtig zu dir bin.«
»Wenn du von dem Rezept für Hundegeruch sprichst, ist es zu spät. Es kocht bereits. Allerdings könnte ich noch ein zusätzliches Kraut oder was hineintun …«
»Wenn ich vorhin nicht aufrichtig zu dir war, dann liegt das daran, dass ich mir selber gegenüber nicht ganz ehrlich war. Aber jetzt, wo ich weit fort bin, kann ich wieder klarer denken. Also. Ich sagte, es gibt niemand anderen, aber das stimmt nicht ganz. Da ist dieses Mädchen. Ja, sie ist ein Mädchen, Anfang dreißig, höchstens. Sehr engagiert in Sachen Bildung in den Entwicklungsländern und Fair Trade. Es war eigentlich nicht diese Sexsache, das war sozusagen nur eine Nebenerscheinung. Sondern es war ihr ungetrübter Idealismus. Er erinnerte
mich daran, wie wir alle mal waren. Weißt du noch, Ray?«
»Tut mir leid, Charlie, aber ich wüsste nicht, dass du je besonders idealistisch gewesen wärst. Im Gegenteil. Eigentlich warst du immer besonders selbstsüchtig und hedonistisch …«
»Okay, vielleicht waren wir alle dekadente Bengel damals, die ganze Truppe. Aber irgendwo in mir war immer diese andere Person, die herauswollte. Das war’s, was mich zu ihr hingezogen …«
»Charlie, wann war das? Wann ist das passiert?«
»Wann ist was passiert?«
»Diese Affäre.«
»Das war keine Affäre! Ich war nicht mit ihr im Bett, nichts dergleichen. Es gab nicht mal ein gemeinsames Mittagessen. Ich habe nur … ich habe nur dafür gesorgt, dass ich sie immer wieder treffe.«
»Was soll das heißen, dass du sie immer wieder triffst?« Ich war unterdessen in die Küche zurückgewandert und betrachtete mein Werk.
»Na ja, ich hab sie eben immer wieder getroffen«, sagte er. »Ich machte Termine, um sie zu sehen.«
»Du meinst, sie ist ein Callgirl.«
»Nein, nein! Ich sag dir doch, wir hatten nichts miteinander. Nein, sie ist Zahnärztin. Ich ging immer wieder hin, erfand einen Schmerz hier, ein wundes Zahnfleisch dort. Du weißt schon – ich hab’s in die Länge gezogen. Und natürlich ist Emily irgendwann dahintergekommen.« Ich meinte ein unterdrücktes Aufschluchzen zu hören. Dann brach der Damm. »Sie kam dahinter … sie kam dahinter … weil ich so viel Zahnseide benutzte!« Jetzt kreischte er fast. »Sie sagte, du benutzt doch niemals derart viel Zahnseide!«
»Aber das ist doch unlogisch. Wenn du deine Zähne besser pflegst, hast du doch weniger Grund, wieder hinzugehen …«
»Wen kümmert’s, ob das logisch ist oder nicht?
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