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Bei Anbruch der Nacht

Titel: Bei Anbruch der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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wieder herein, stellte ihre leere Tasse mit Untertasse auf die Theke und sagte: »Nachdem Sie hier die Tische nicht abräumen, bringe ich mein Geschirr selbst zurück.« Sie musterte mich mit einem Blick, der eine oder zwei Sekunden länger als normal dauerte – ihrem alten Könnte-ich-dich-nur-erschlagen-Blick -, dann ging sie.

    Mein alter Hass auf diesen entsetzlichen Drachen flammte wieder auf, und als Maggie ein paar Minuten später herunterkam, schäumte ich vor Wut. Sie merkte es sofort und fragte, was los sei. Weil drinnen niemand war und nur auf der Terrasse noch ein paar Gäste saßen, fing ich an zu schreien und beschimpfte die Hexe Fraser mit sämtlichen Unflätigkeiten, die mir einfielen. Maggie beschwichtigte mich, dann sagte sie:
    »Schau, sie ist doch keine Lehrerin mehr. Sie ist bloß eine traurige alte Frau, die von ihrem Mann verlassen wurde.«
    »Kein Wunder!«
    »Aber du musst auch ein bisschen Mitleid mit ihr haben. Gerade als sie denkt, sie könnte ihren Ruhestand genießen, wird sie wegen einer jüngeren Frau verlassen. Und jetzt muss sie allein diese Frühstückspension führen, und die Leute sagen, das Haus ist schrecklich heruntergekommen.«
    Das freute mich ganz außerordentlich. Kurz darauf vergaß ich die Hexe Fraser wieder, denn eine größere Gruppe kam herein, und ich musste massenhaft Thunfischsalat machen. Aber ein paar Tage später, als ich in der Küche mit Geoff plauderte, erfuhr ich weitere Details: dass ihr Mann nach mehr als vierzig Jahren Ehe mit seiner Sekretärin abgehauen war; dass ihr Hotel am Anfang gar nicht schlecht gelaufen war, aber jetzt hörte man, dass die Gäste ihr Geld zurückverlangten oder wenige Stunden nach der Ankunft wieder abreisten. Ich sah das Haus selbst einmal, als ich Maggie beim Großmarkteinkauf half und wir dran vorbeifuhren. Hexe Frasers Hotel war direkt an der Elgar Route, eigentlich ein recht gediegenes Granitgebäude mit einem überdimensionalen Schild, auf dem »Malvern Lodge« stand.
    Aber ich will gar nicht so lang auf der Hexe Fraser herumreiten. Es ist durchaus nicht so, dass sie mir im Kopf herumgeht,
so wenig wie ihr Hotel. Ich erwähne das alles hier nur wegen der späteren Ereignisse, als Tilo und Sonja ins Spiel kamen.
    Geoff war an dem Tag nach Great Malvern gefahren, Maggie und ich hielten allein die Stellung. Der Mittagsansturm war schon vorbei, aber wir hatten immer noch alle Hände voll zu tun, als die Krauts hereinkamen. Als »die Krauts« hatte ich sie bei mir abgespeichert, nachdem ich ihren Akzent gehört hatte. Das hat nichts mit Rassismus zu tun. Wenn du hinter einer Theke stehst und dich erinnern musst, wer keine Roten Rüben, wer extra Brot, wer was auf welcher Rechnung haben will, bleibt dir einfach nichts anderes übrig, als aus allen Gästen Charaktere zu machen, ihnen Namen zu geben, körperliche Merkmale herauszugreifen. Eselsgesicht hatte ein Ploughman’s Sandwich und zwei Kaffee. Thunfisch-Mayonnaise-Baguettes für Winston Churchill und Gattin. So machte ich das. Tilo und Sonja waren also »die Krauts«.
    An dem Nachmittag war es sehr heiß, trotzdem wollten die meisten Gäste draußen auf der Terrasse sitzen – Engländer eben; manche mieden sogar die Sonnenschirme, um in der Sonne krebsrot zu werden. Die Krauts aber beschlossen, drinnen im Kühlen zu sitzen. Sie trugen weite, kamelfarbene Hosen, Sportschuhe und T-Shirts, wirkten aber irgendwie schick, wie es bei Leuten vom Festland oft der Fall ist. Ich schätzte sie auf Ende vierzig, Anfang fünfzig – zu dem Zeitpunkt schenkte ich ihnen nicht viel Beachtung. Beim Essen unterhielten sie sich leise miteinander, und ich nahm sie wahr als ein x-beliebiges Touristenpaar mittleren Alters, ganz sympathisch. Nach einer Weile stand der Mann auf und begann durch den Raum zu wandern. Vor einem alten vergilbten Foto des Hauses aus dem Jahr 1915, das Maggie an der Wand hängen
hat, blieb er stehen und studierte es; dann reckte er die Arme und sagte:
    »Ihre Gegend ist grandios! Wir haben viele schöne Berge in der Schweiz. Aber was Sie hier haben, ist etwas ganz anderes. Das sind Hügel. Keine Berge, sondern Hügel. Sie haben einen ganz eigenen Reiz, denn sie sind lieblich und sanft.«
    »Oh, Sie sind aus der Schweiz«, sagte Maggie in ihrem höflichen Ton. »Da wollte ich schon immer mal hin. Es klingt alles so fantastisch, die Alpen, die Bergbahnen.«
    »Natürlich hat die Schweiz viele schöne Eigenschaften. Aber Ihre Gegend hier hat wirklich einen besonderen

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