Bei Anbruch der Nacht
Wolken und auf das weite Land unter mir und zwang mich, wieder an mein Lied zu denken und an die Überleitung, die noch immer nicht stimmte.
Bei Anbruch der Nacht
B is vor zwei Tagen wohnte ich Tür an Tür mit Lindy Gardner. Okay, denken Sie jetzt, wenn Lindy Gardner meine Nachbarin war, dann heißt das wahrscheinlich, dass ich in Beverly Hills wohne; dass ich womöglich Filmproduzent bin oder Schauspieler oder Musiker. Also ein Musiker bin ich. Aber ich bin nicht das, was man Oberliga nennt – auch wenn ich schon mit ein, zwei Künstlern aufgetreten bin, von denen Sie vielleicht gehört haben. Bradley Stevenson, mein Manager, der mir auf seine Weise im Lauf der Jahre ein guter Freund war, behauptet ja, ich hätte das Zeug zur Oberliga. Nicht nur Oberliga-Studiomusiker, sondern Oberliga-Bühnenstar. Es stimmt nicht, dass Saxofonisten heutzutage keine Stars mehr werden, sagt er, und er betet seine Namensliste herunter. Marcus Lightfoot. Silvio Tarrentini. Das sind alles Jazzer, wende ich ein. »Ja was bist du denn, etwa kein Jazzer?«, sagt er. Nur in meinen geheimsten Träumen bin ich noch ein Jazzer. In der realen Welt – wenn mein Gesicht nicht komplett bandagiert ist wie jetzt – bin ich bloß ein Aushilfstenor-Mann, der halbwegs gefragt ist, im Studio oder als Lückenbüßer, wenn bei einer Band der reguläre Saxofonist ausgefallen ist. Wollen
sie Pop haben, gut, spiele ich Pop. R&B? Okay. Autowerbung, Titelmusik für Talkshows – mach ich. Jazz spiele ich heutzutage nur noch daheim in meinem Kabuff.
Natürlich würde ich lieber im Wohnzimmer spielen, aber der Wohnblock ist so windig gebaut, dass sich den ganzen Flur entlang die Nachbarn beschwerden würden. Deshalb habe ich unser kleinstes Zimmer in einen Probenraum umgewandelt. Eigentlich ist es nicht mehr als ein Wandschrank – man kann einen Bürostuhl hineinstellen, und das war’s -, aber ich habe den Raum mit Schaum und Eierkartons und alten wattierten Umschlägen, die mein Manager Bradley aus seinem Büro verschickt, schalldicht gemacht. Als Helen, meine Frau, noch bei mir wohnte, lachte sie immer, wenn sie mich mit meinem Sax darin verschwinden sah, und sagte, das sei, als ginge ich aufs Klo, und manchmal kam es mir wirklich so vor. In diesem schummrigen, fensterlosen Kabuff zu sitzen und einer Privatangelegenheit nachzugehen, von der niemand was mitkriegen will, das ist ja im Grunde nichts anderes.
Inzwischen ahnen Sie wahrscheinlich schon, dass ich Lindy Gardner nicht in der Wohnung, von der ich rede, als Nachbarin hatte. Sie war auch keine der Nachbarn, die an die Tür hämmerten, wenn ich mal wagte, außerhalb des Kabuffs zu spielen. Wenn ich sage, sie war meine Nachbarin, meine ich etwas anderes, und das will ich jetzt gleich erklären.
In diesem protzigen Hotel hier war Lindy bis vor zwei Tagen meine Zimmernachbarin und hatte, wie ich, das Gesicht komplett einbandagiert. Lindy hat natürlich ein großes, komfortables Haus hier in der Nähe, und weil sie sich bezahlte Hilfe leisten kann, hat Dr. Boris sie nach Hause gelassen. Das heißt, aus rein medizinischer Sicht hätte sie wahrscheinlich schon viel früher gehen können, aber es spielten offensichtlich
noch andere Faktoren eine Rolle. Zum Beispiel hätte sie sich vor Kameras und Klatschreportern zu Hause nicht so leicht verstecken können. Vor allem aber habe ich eine dumpfe Ahnung, dass Dr. Boris seinen gigantischen Ruhm manchem Verfahren verdankt, das nicht hundertprozentig legal ist, und das mag der Grund sein, weshalb er seine Patienten hier oben in dieser streng geheimen Hoteletage, fernab vom normalen Betrieb unterbringt und uns anweist, unser Zimmer nur im äußersten Notfall zu verlassen. Könnte man unter all die Verbände schauen, bekäme man hier oben in einer einzigen Woche mehr Stars zu Gesicht als in einem ganzen Monat im Chateau Marmont.
Wie aber gerät jemand wie ich mit all den Stars und Millionären hierher, wo mir der beste plastische Chirurg der Stadt ein neues Gesicht verpasst? Wahrscheinlich hat alles mit meinem Manager Bradley angefangen, der selber nicht gerade Oberliga ist und mit George Clooney so wenig Ähnlichkeit hat wie ich. Als er es vor ein paar Jahren zum ersten Mal erwähnte, meinte er es wohl noch im Scherz, aber es schien ihm jedes Mal, wenn er wieder drauf zurückkam, ernster zu werden. Was er sagte, war, mit einem Wort, dass ich hässlich bin. Und das sei der Grund, weshalb ich es nicht in die Oberliga schaffte.
»Schau dir Marcus Lightfoot
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