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Bei Anbruch der Nacht

Titel: Bei Anbruch der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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erwarteten sicher, dass ich wieder zur Stelle war, wenn der Mittagsansturm einsetzte, aber ich fand, sie hatten eine Lektion über mangelnden Respekt gegenüber Mitarbeitern verdient. Deshalb ging ich nach dem Frühstück wieder nach oben, holte meine Gitarre und schlich zur Hintertür hinaus.
    Es war wieder ein wirklich heißer Tag, und mir lief der Schweiß über die Wangen, als ich den Weg zu meiner Bank hinaufstieg. Zwar hatte ich beim Frühstück an Tilo und Sonja gedacht, aber inzwischen hatte ich sie wieder vergessen und erlebte also eine Überraschung, als ich auf dem letzten Anstieg zur Bank aufschaute und Sonja allein dort sitzen sah. Sie entdeckte mich sofort und winkte.
    Sie war mir noch immer nicht ganz geheuer, vor allem ohne Tilo in der Nähe, und ich war nicht sehr erpicht darauf, mich zu ihr zu setzen. Aber sie strahlte mich breit an und rückte bereitwillig zur Seite, wie um mir eigens Platz zu machen – was blieb mir also anderes übrig.
    Wir sagten Hallo, und dann saßen wir eine Zeit lang nur nebeneinander, ohne zu reden. Das wirkte zunächst gar nicht so merkwürdig, schon allein deshalb, weil ich erst mal verschnaufen musste, aber auch wegen der Aussicht: An diesem
Tag war es dunstiger und bewölkter als tags zuvor, aber wenn man sich konzentrierte, konnte man bis zu den Black Mountains jenseits der Grenze zu Wales sehen. Es ging ein ziemlicher Wind, der aber nicht unangenehm war.
    »Wo ist denn Tilo?«, fragte ich schließlich.
    »Tilo? Oh …« Sie beschirmte ihre Augen und hielt Ausschau. Dann streckte sie die Hand aus. »Dort. Sehen Sie? Dort drüben. Das ist Tilo.«
    Ein gutes Stück entfernt erkannte ich eine Gestalt, die möglicherweise ein grünes T-Shirt und eine weiße Schirmmütze trug und den Weg Richtung Worcestershire Beacon hinaufging.
    »Tilo wollte spazieren gehen«, sagte sie.
    »Und Sie wollten nicht mit?«
    »Nein. Ich wollte lieber hier bleiben.«
    Zwar erinnerte sie in keiner Hinsicht an den zornentbrannten Gast aus dem Café, doch war sie auch nicht ganz dieselbe wie am Vortag, als sie mir gegenüber so herzlich und ermutigend gewesen war. Es lag eindeutig etwas in der Luft, und ich begann mir eine Rechtfertigung wegen der Hexe Fraser zurechtzulegen.
    »Übrigens«, sagte ich, »hab ich an dem Lied weitergearbeitet. Wenn Sie mögen, spiel ich’s Ihnen vor.«
    Sie überlegte kurz, dann sagte sie: »Wenn Sie mir nicht böse sind, dann vielleicht bitte lieber ein bisschen später. Wissen Sie, Tilo und ich hatten gerade ein Gespräch. Sie können es Streit nennen.«
    »Oh, verstehe. Das tut mir leid.«
    »Und jetzt geht er eben spazieren.«
    Wieder saßen wir stumm da. Dann seufzte ich und sagte: »Vielleicht ist das alles meine Schuld.«

    Sie drehte sich zu mir. »Ihre Schuld? Wieso das denn?«
    »Dass Sie gestritten haben. Dass Ihr Urlaub jetzt im Eimer ist. Meine Schuld. Es liegt an diesem Hotel, oder? Es ist nicht grad fantastisch, stimmt’s?«
    »Das Hotel?« Sie wirkte verwirrt. »Ah, das Hotel. Na ja, es hat schon ein paar Schwachstellen. Aber es ist ein Hotel, wie viele andere.«
    »Aber sie sind Ihnen nicht entgangen, oder? Diese ganzen Schwachstellen sind Ihnen nicht entgangen? Kann ja nicht anders sein.«
    Sie schien darüber nachzudenken, dann nickte sie. »Das stimmt, die Schwachstellen sind nicht zu übersehen. Aber Tilo hat nichts gemerkt. Tilo hält das Hotel natürlich für prächtig. Was für ein Glück, sagte er immer wieder, was für ein Glück, dass wir so ein Hotel gefunden haben. Dann das Frühstück heute Morgen. Für Tilo ist es ein wunderbares Frühstück, das beste, das er je hatte. Ich sage, Tilo, sei nicht blöd. Das ist ein miserables Frühstück. Das ist ein miserables Hotel. Aber er sagt, nein, nein, wir haben so ein Glück. Daraufhin werde ich wütend. Ich zähle der Besitzerin alles auf, was unmöglich ist. Tilo führt mich weg. Gehen wir spazieren, sagt er. Dann geht’s dir gleich besser. Wir kommen also hierher. Und er sagt: Sonja, schau dir diese Landschaft an, ist sie nicht wunderschön? Haben wir nicht ein großes Glück, dass wir in unserem Urlaub gerade hier gelandet sind? Diese Hügel, sagt er, sind noch schöner, als er sie sich vorgestellt hat, während er Elgar hörte. Stimmt es nicht, fragt er mich. Ich werde wohl wieder wütend. So wunderschön sind sie auch wieder nicht, sage ich. Sie sind nicht so, wie ich sie mir vorstelle, wenn ich Elgars Musik höre. Elgars Hügel sind majestätisch und geheimnisvoll. Hier sieht es

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