Bei Anbruch der Nacht
aufnehmen würde, an die Musiker, die ich als Begleitung anheuern würde. Ich war siegestrunken und wusste nicht mehr, wie ich je hatte zögern können.
Dann kam die zweite Woche, das Medikamentenhoch ließ nach, und jetzt war ich niedergeschlagen, fühlte mich einsam und minderwertig. Gracie, die Krankenschwester, erlaubte ein bisschen mehr Licht im Zimmer – allerdings blieben die Jalousien immer mindestens halb geschlossen -, und ich durfte im Bademantel herumgehen. Also schob ich eine CD nach der anderen in die Bang-&-Olufsen-Anlage und wanderte auf dem Teppich im Kreis, nur hin und wieder blieb ich vor dem Spiegel über der Kommode stehen, um das seltsame, einbandagierte Monster zu begutachten, das mich aus Augenschlitzen anstarrte.
In diesem Stadium erzählte mir Gracie, dass nebenan Lindy Gardner untergebracht sei. Hätte sie mir diese Neuigkeit in meiner früheren, euphorischen Phase präsentiert, hätte ich sie begeistert aufgenommen. Vielleicht hätte ich sie gar als Vorboten des glanzvollen Lebens genommen, zu dem ich unterwegs war. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt allerdings, als ich mich meiner Talsohle näherte, erfüllte sie mich mit solchem
Abscheu, dass mir wieder richtig übel wurde. Sollten Sie zu Lindys vielfältigen Bewunderern zählen, bitte ich im Voraus um Verzeihung für das, was jetzt kommt. Wenn es irgendwen gab, der alles verkörperte, was mir an der Welt flach und unerträglich war, dann war das, in dem Moment, Lindy Gardner: eine Person von nicht nachweisbarer Begabung – okay, seien wir ehrlich, dass sie keine Schauspielerin ist, hat sie demonstriert , und dass sie musikalisches Talent habe, behauptet nicht mal sie selber -, die es aber trotzdem geschafft hat, berühmt zu werden, eine, um die sich Fernsehsender und Hochglanzmagazine reißen, von deren lächelnder Miene sie gar nicht genug kriegen können. Ich kam dieses Jahr mal an einem Buchladen vorbei und sah die Leute Schlange stehen und dachte schon, dass hier mindestens ein Stephen King Autogramme gibt, aber nein, es war Lindy Gardner, die ihre neueste, selbstverständlich aus der Feder eines Ghostwriters stammende Autobiografie signierte. Und wie hat sie das alles erreicht? Auf dem üblichen Weg natürlich. Die richtigen Affären, die richtigen Ehen, die richtigen Scheidungen. Das alles führt zu den richtigen Titelseiten, den richtigen Talkshows und Auftritten wie dieser Sendung, in der sie zuletzt war, ich weiß nicht mehr, wie sie hieß; darin gab sie allerlei Ratschläge: wie frau sich für ihre erste große Verabredung nach der Scheidung kleidet oder was sie tun soll, wenn sie den Verdacht hat, der Ehemann sei schwul. Solche Sachen. Die Leute behaupten, sie sei »der geborene Star«, aber das angeblich Faszinierende an ihr ist leicht genug zu durchschauen: Es ist die schiere Menge der Fernsehauftritte und Titelbilder, der unzähligen Fotos, die sie auf Premieren und Partys Arm in Arm mit legendären Gestalten zeigen. Und jetzt war sie hier, direkt nebenan, und erholte sich genau wie ich von einer Gesichts-OP,
die Dr. Boris vorgenommen hatte. Keine andere Nachricht hätte das Ausmaß meines moralischen Abstiegs besser symbolisieren können als diese. Eine Woche zuvor war ich noch Jazzmusiker gewesen. Jetzt war ich nur noch einer von vielen armseligen Möchtegernen, die sich das Gesicht richten lassen, weil sie hoffen, den Lindy Gardners dieser Welt in einen geistlosen Ruhm nachkriechen zu können.
Während der nächsten paar Tage versuchte ich mir lesend die Zeit zu vertreiben, aber ich konnte mich nicht konzentrieren. Teile meines verbundenen Gesichts pochten schrecklich, andere juckten wie die Hölle, und ich hatte Hitzewallungen und Anfälle von Klaustrophobie. Ich sehnte mich nach meinem Saxofon, und der Gedanke, dass es noch Wochen dauern würde, bis ich mit meinen Gesichtsmuskeln wieder ausreichend Druck erzeugen konnte, machte mich noch trübsinniger. Schließlich kam ich drauf, dass ich den Tag am besten hinter mich brachte, wenn ich abwechselnd CDs hörte und auf Notenblätter starrte – ich hatte den Ordner mit Charts und Leadsheets mitgebracht, mit dem ich in meinem Kabuff arbeite – und mir Improvisationen vorsummte.
Gegen Ende der zweiten Woche, als es körperlich und seelisch ein bisschen bergauf ging, reichte mir die Krankenschwester mit wissendem Lächeln einen Umschlag und sagte: »Also so was wie das hier kriegen Sie nicht alle Tage.« Ich zog ein Blatt vom Notizpapier des Hotels heraus, und weil ich es
Weitere Kostenlose Bücher