Bei Anbruch der Nacht
Steve, darf ich Ihnen was vorspielen? Um Ihnen zu zeigen, was ich meine?«
»Ja, klar. Aber Mrs Gardner …«
»Bitte. Nennen Sie mich Lindy. Wir sitzen hier doch alle im selben Boot.«
»Okay. Lindy. Ich wollte nur sagen: Ich bin nicht so jung. Fakt ist, dass ich demnächst neununddreißig werde.«
»Ach wirklich? Na, das ist immer noch jung. Aber Sie haben recht, ich dachte tatsächlich, Sie sind viel jünger. Mit diesen exklusiven Masken, die Boris uns gemacht hat, lässt sich das Alter schwer schätzen, nicht? Nach dem, was Gracie sagte, dachte ich, Sie sind so ein junges Talent, und vielleicht haben Ihre Eltern Ihnen die OP bezahlt, um Ihnen einen rasanten Start zu ermöglichen. Tut mir leid, mein Fehler.«
»Hat Gracie gesagt, ich sei ein ›Nachwuchstalent‹?«
»Seien Sie ihr nicht böse. Sie sagte, Sie sind Musiker, und deshalb fragte ich sie nach Ihrem Namen. Und als ich sagte,
den hätte ich nie gehört, sagte sie: ›Das liegt daran, dass er ein Nachwuchstalent ist.‹ Mehr war’s nicht. Aber schauen Sie, was spielt es denn für eine Rolle, wie alt Sie sind? Sie können immer noch von den alten Hasen lernen. Ich möchte, dass Sie sich das anhören. Ich glaube, das wird Sie interessieren.«
Sie trat an eine Vitrine, suchte eine Weile, dann hielt sie mir eine CD hin. »Das wird Ihnen gefallen. Das Saxofon hier ist einfach perfekt.«
Ihr Zimmer war wie das meine mit einer Bang-&-Olufsen-Anlage ausgestattet, und bald füllte sich der Raum mit satten Streicherklängen. Ein paar Takte später brach mit einem schläfrigen Klang, der an Ben Webster erinnerte, ein Tenorsax durch und übernahm bald die Führung über das Orchester. Wenn man sich nicht so gut auskennt, hätte man es vielleicht für eines dieser Intros halten können, die Nelson Riddle für Sinatra komponiert hat. Aber die Stimme, die schließlich einsetzte, gehörte Tony Gardner. Das Lied – ich hatte es nur undeutlich in Erinnerung – hieß »Back at Culver City«, eine Ballade, die nie den Durchbruch geschafft hat und die heute kaum noch gespielt wird. Die ganze Zeit, die Tony Gardner sang, hielt das Sax mit ihm Schritt und antwortete ihm Zeile für Zeile. Das Ganze war total vorhersehbar und viel zu schmalzig.
Nach einer Weile aber achtete ich kaum noch auf die Musik, denn vor mir war Lindy, die sich in einer Art Entrückung befand und selbstvergessen zu dem Lied tanzte. Ihre Bewegungen waren leicht und anmutig – operiert war offensichtlich nur ihr Gesicht -, und sie hatte einen wohlgeformten, schlanken Körper. Sie trug etwas, das halb Morgenrock, halb Cocktailkleid war; also, es war irgendwie krankenhausartig und elegant zugleich. Außerdem zermarterte ich mir das Gedächtnis,
denn ich hatte das deutliche Gefühl, dass sich Lindy jüngst von Tony Gardner hatte scheiden lassen, aber in Sachen Gesellschaftstratsch bin ich wirklich völlig unbeleckt, und ich war sicher, dass ich mich irrte. Warum sollte sie sonst auf diese Weise tanzen, so der Musik hingegeben und sichtlich voller Wonne?
Tony Gardner verstummte für einen Moment, die Streicher schwollen zur Überleitung an, dann begann der Pianist mit einem Solo, und Lindy schien auf die Erde zurückzukehren. Ihre wiegenden Bewegungen brachen ab, sie stoppte die Musik mit der Fernbedienung, kam zurück und setzte sich wieder mir gegenüber.
»Ist das nicht wunderbar? Verstehen Sie, was ich meine?«
»Ja, sehr schön«, sagte ich und wusste nicht, ob wir noch ausschließlich über das Saxofon redeten.
»Ihre Ohren haben Sie übrigens nicht getäuscht.«
»Wie bitte?«
»Der Sänger. Sie vermuten richtig. Nur weil er nicht mehr mein Mann ist, heißt das ja nicht, dass ich nicht seine Platten hören kann, oder?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Und es ist ein großartiges Saxofon. Jetzt sehen Sie, warum ich es Ihnen vorspielen wollte.«
»Ja, wirklich schön.«
»Steve, gibt es irgendwo Aufnahmen von Ihnen? Ich meine, auf denen Sie selber spielen?«
»Na klar. Ich hab sogar ein paar CDs nebenan.«
»Wenn Sie das nächste Mal herüberkommen, Süßer, bringen Sie welche mit, ja? Ich möchte hören, wie Sie klingen. Tun Sie das?«
»Okay, wenn es Sie nicht langweilt.«
»Aber nein, das langweilt mich ganz bestimmt nicht. Ich hoffe nur, Sie halten mich nicht für neugierig. Tony sagte immer, ich sei schrecklich neugierig, ich soll die Leute in Ruhe lassen, aber wissen Sie, ich finde, er war einfach ein Snob. Viele Prominente denken, sie sollten sich nur für andere Prominente
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