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Bei Anbruch der Nacht

Titel: Bei Anbruch der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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interessieren. Das finde ich nicht. Ich sehe jeden als möglichen Freund. Gracie zum Beispiel. Sie ist meine Freundin. Alle meine Hausangestellten, sie sind ebenfalls meine Freunde. Sie sollten mich mal auf Partys erleben. Alle erzählen sich gegenseitig von ihrem neuesten Film oder sonst was, während ich diejenige bin, die sich mit dem Catering-Mädchen oder dem Barmann unterhält. Das ist doch keine Neugier, oder?«
    »Nein, das halte ich gar nicht für Neugier. Aber schauen Sie, Mrs Gardner …«
    »Lindy, bitte.«
    »Lindy. Schauen Sie, es war wirklich schön bei Ihnen. Aber diese Medikamente – irgendwie machen sie mich furchtbar müde. Ich glaube, ich muss mich eine Weile hinlegen.«
    »Oh, geht’s Ihnen nicht gut?«
    »Doch, doch. Es sind nur diese Medikamente.«
    »Wie schade! Sie müssen unbedingt wiederkommen, wenn’s Ihnen besser geht. Und bringen Sie die Aufnahmen mit, auf denen Sie spielen. Abgemacht, ja?«
    Ich musste ihr abermals versichern, dass ich gern bei ihr gewesen war und wiederkommen würde. Als ich schon aus der Tür war, sagte sie:
    »Steve, spielen Sie Schach? Ich bin die mieseste Schachspielerin der Welt, aber ich besitze die hübschesten Schachfiguren. Meg Ryan hat sie mir letzte Woche mitgebracht.«

    Zurück in meinem Zimmer, holte ich mir eine Cola aus der Minibar, setzte mich an den Schreibtisch und blickte aus dem Fenster auf einen ungeheuer purpurnen Sonnenuntergang. Und weil wir ziemlich hoch oben waren, sah ich in der Ferne die Autos auf der Schnellstraße. Ein paar Minuten lang saß ich so da, dann rief ich Bradley an. Seine Sekretärin ließ mich lange in der Leitung warten, aber irgendwann hatte ich ihn am Apparat.
    »Wie geht’s dem Gesicht?«, fragte er besorgt, als erkundigte er sich nach einem geliebten Haustier, das er in meiner Obhut zurückgelassen hatte.
    »Woher soll ich das wissen? Ich bin nach wie vor der Unsichtbare.«
    »Geht’s dir gut? Du klingst … niedergeschlagen.«
    »Ich bin niedergeschlagen. Die ganze Sache war ein Fehler. Das ist mir inzwischen klar. Es wird nicht klappen.«
    Einen Moment lang herrschte Stille, dann fragte er: »Ist die Operation schiefgegangen?«
    »Sicher nicht. Nein, ich meine alles andere, wo das alles hinführen soll. Dieser Plan … Das wird nie so funktionieren, wie du gesagt hast. Ich hätte mich nie von dir überreden lassen dürfen.«
    »Was ist los mit dir? Du klingst deprimiert. Was für Drogen haben sie dir verpasst?«
    »Mir geht’s gut. Tatsächlich bin ich klarer im Kopf als die ganze letzte Zeit. Das ist ja das Problem. Ich durchschaue jetzt alles. Dieser Plan von dir … Ich hätte nie auf dich hören dürfen.«
    »Was soll das? Was für ein Plan? Hör zu, Steve, da gibt’s doch nichts zu durchschauen. Du bist ein begabter Künstler. Wenn du das alles hinter dir hast, musst du nur weitermachen
wie bisher. Jetzt räumst du lediglich ein Hindernis aus dem Weg, das ist alles. Es gibt keinen Plan …«
    »Schau, Bradley, es ist schrecklich hier. Ich meine nicht nur die körperlichen Beschwerden. Ich erkenne jetzt, was ich mir antue. Es war ein Fehler. Ich hätte mehr Respekt vor mir haben sollen.«
    »Steve, woher kommt diese Stimmung? Ist irgendwas passiert?«
    »Das kannst du laut sagen! Deswegen ruf ich dich an: Du musst mich hier rausholen. Du musst mich in ein anderes Hotel bringen.«
    »Ein anderes Hotel? Was glaubst du, wer du bist, Kronprinz Abdullah? Was hast du denn auf einmal gegen dein Hotel, verdammt?«
    »Was ich dagegen habe? Dass direkt nebenan Lindy Gardner wohnt. Und dass sie mich zu sich eingeladen hat – gerade komm ich von ihr zurück. Und dass sie die Absicht hat, mich noch öfter einzuladen. Das hab ich dagegen!«
    »Lindy Gardner wohnt nebenan?«
    »Hör zu, ein zweites Mal halt ich das nicht mehr aus. Ich war eben drüben bei ihr, ich hätte keine Minute länger bleiben können. Und jetzt sagt sie, wir müssen mit ihren Meg-Ryan-Figuren Schach spielen …«
    »Steve, ist das dein Ernst, dass Lindy Gardner nebenan wohnt? Dass du drüben warst?«
    »Sie hat eine Aufnahme von ihrem Ehemann aufgelegt! Scheiße, ich glaube, sie hört sich jetzt noch eine an. So weit ist es mit mir gekommen! Auf diesem Niveau bin ich jetzt!«
    »Moment, Steve, noch mal von vorn. Steve, halt jetzt einfach deine verdammte Klappe und erklär’s mir dann in Ruhe.
Erklär mir, wie es kommt, dass Lindy Gardner dich zu sich eingeladen hat.«
    Tatsächlich beruhigte ich mich kurz und lieferte ihm dann eine

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