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Bei Anbruch der Nacht

Titel: Bei Anbruch der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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ist gut«, sagte Lee. »Und noch dazu in diesem Hotel. Warte, ich hab’s dabei.« Er durchwühlte seine Tasche und zog ein ramponiertes Exemplar der LA Weekly heraus. »Bitte, hier ist es. Die Simon and Wesbury Music Awards.
Jazzmusiker des Jahres. Jake Marvell. Warte, wann ist das jetzt? Morgen, im Festsaal. Du könntest ganz einfach hier die Treppe runtergehen und dir die Zeremonie anschauen.« Er ließ die Zeitung sinken und schüttelte den Kopf. »Jake Marvell. Jazzmusiker des Jahres. Wer hätte das gedacht, was, Steve?«
    »Ich schätze, bis in den Festsaal schaff ich’s nicht«, sagte ich. »Aber ich werd einen auf ihn heben.«
    »Jake Marvell. Junge, ist das eine verkorkste Welt oder was?«

    Etwa eine Stunde nach dem Mittagessen läutete das Telefon, und es war Lindy.
    »Die Schachfiguren sind aufgestellt, Süßer«, sagte sie. »Sind Sie bereit? Bitte sagen Sie nicht Nein, ich werde hier verrückt vor Langeweile. Oh, und vergessen Sie nicht, Ihre CDs mitzubringen. Ich bin wahnsinnig gespannt drauf, Sie spielen zu hören.«
    Ich legte auf, dann saß ich auf der Bettkante und versuchte zu analysieren, wie es kam, dass ich mich nicht durchgesetzt hatte. Tatsächlich hatte ich nicht mal Anstalten gemacht, Nein zu sagen! Vielleicht war es schlichte Rückgratlosigkeit. Vielleicht hatte ich mir Bradleys Argumentation am Telefon doch mehr zu Herzen genommen, als ich zugegeben hatte. Jedenfalls war jetzt keine Zeit zum Überlegen, denn ich musste entscheiden, welche meiner CDs am ehesten Eindruck auf sie machen würden. Die Avantgarde-Sachen kamen definitiv nicht infrage – das waren die Stücke, die ich letztes Jahr in San Francisco mit den Elektro-Funk-Leuten aufgenommen hatte. Schließlich suchte ich nur eine einzige CD aus, zog ein frisches Hemd an und den Morgenrock wieder darüber, dann ging ich nach nebenan.

    Sie trug ebenfalls einen Morgenrock, allerdings einen von der Sorte, die sie auch zu einer Filmpremiere hätte tragen können, ohne sich groß schämen zu müssen. Das Schachbrett war natürlich auf dem niedrigen Glastisch aufgebaut, und wir setzten uns wieder einander gegenüber und begannen eine Partie. Die Stimmung war wesentlich lockerer als beim letzten Mal, was vielleicht daran lag, dass unsere Hände was zu tun hatten. Während wir spielten, redeten wir über dies und jenes: TV-Sendungen, ihre Lieblingsstädte in Europa, chinesisches Essen. Diesmal fielen sehr viel weniger Promi-Namen, und sie wirkte viel ruhiger. Irgendwann sagte sie:
    »Wissen Sie, was mein Trick ist, um hier drin nicht verrückt zu werden? Mein großes Geheimnis? Ich sag’s Ihnen, aber kein Wort zu irgendwem, nicht mal zu Gracie, versprochen? Ich mache Nachtspaziergänge. Nur hier im Gebäude, aber das ist ja so weitläufig, dass Sie ewig herumlaufen können. Und mitten in der Nacht, es ist erstaunlich. Wie lang war ich letzte Nacht auf Achse? Bestimmt eine Stunde. Sie müssen vorsichtig sein, es ist ständig Personal unterwegs, aber ich bin nie erwischt worden. Beim geringsten Geräusch husche ich fort und verstecke mich irgendwo. Einmal haben mich eine Sekunde lang diese Putzleute erblickt, aber ich – nichts wie weg, in den Schatten. Es ist so aufregend! Den ganzen Tag bist du eingesperrt, und dann ist es, als wärst du auf einmal vollkommen frei, es ist wirklich großartig. Irgendwann nehm ich Sie mal mit, Süßer. Ich zeig Ihnen ein paar tolle Sachen. Die Bars, die Restaurants, Konferenzräume. Wunderbarer Festsaal. Und nirgends ein Mensch, alles ist dunkel und leer. Und was absolut Fantastisches hab ich gefunden, eine Art Penthouse, vielleicht wird das mal eine Präsidentensuite? Sie bauen noch dran, es ist erst halb fertig, aber ich hab’s entdeckt und konnte
einfach hineingehen. Dort drin war ich vielleicht zwanzig Minuten, halbe Stunde, und habe über alles Mögliche nachgedacht. Hey, Steve, ist das okay? Kann ich das tun und Ihre Königin nehmen?«
    »Oh. Ja, wahrscheinlich. Hab ich übersehen. Hey, Lindy, Sie spielen viel besser, als Sie zugeben. Was soll ich jetzt machen?«
    »Na gut, ich sag Ihnen was. Nachdem Sie der Gast sind und Sie sich durch mein Gerede offensichtlich haben ablenken lassen, tu ich so, als hätte ich nichts gemerkt. Ist das nicht nett von mir? Sagen Sie, Steve, ich weiß nicht mehr, ob ich Sie das schon gefragt habe. Sie sind verheiratet, richtig?«
    »Richtig.«
    »Wie denkt denn Ihre Frau über das alles? Ich meine, das kostet doch eine Stange Geld. Davon könnte sie sich etliche Paar

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