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Bei Anbruch der Nacht

Titel: Bei Anbruch der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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Zusammenfassung, wie mich Lindy eingeladen hatte und wie der Besuch verlaufen war.
    »Warst du nicht unhöflich zu ihr?«, fragte er, als ich fertig war.
    »Nein, ich war nicht unhöflich. Ich hab mich zusammengerissen. Aber ich geh da nicht noch mal hin. Ich muss in ein anderes Hotel ziehen.«
    »Du wirst nicht umziehen, Steve. Lindy Gardner? Sie ist bandagiert, du bist bandagiert. Sie ist im Zimmer nebenan. Steve, das ist eine einmalige Chance!«
    »Auf keinen Fall, Bradley. Es ist der innerste Kreis der Hölle. Ihre Meg-Ryan-Schachfiguren, um Gottes willen!«
    »Meg-Ryan-Schachfiguren? Wie muss man sich das vorstellen? Sieht jede aus wie Meg Ryan?«
    »Und sie will meine Aufnahmen hören! Sie besteht drauf, dass ich das nächste Mal CDs mitbringe!«
    »Sie will … Jesus, Steve, du hast noch nicht mal den Verband runter, und schon läuft alles wie geschmiert. Sie will deine Musik hören?«
    »Bitte, Bradley, tu irgendwas. Okay, ich sitze in der Tinte, ich hab die OP machen lassen, du hast mich dazu überredet, weil ich blöd genug war, auf dich zu hören. Aber das muss ich mir jetzt nicht mehr antun. Ich muss nicht die nächsten zwei Wochen mit Lindy Gardner verbringen. Ich bitte dich, mich verlegen zu lassen, und zwar schnell!«
    »Ich lasse dich nirgendwohin verlegen. Ist dir eigentlich klar, was für eine wichtige Person Lindy Gardner ist? Weißt du, mit was für Leuten sie verkehrt? Was sie mit einem einzigen
Anruf für dich tun kann? Okay, von Tony Gardner ist sie jetzt geschieden. Aber das ändert gar nichts. Hol sie in dein Team, krieg dein neues Gesicht, es werden sich alle möglichen Türen für dich öffnen. In null Komma nix bist du Oberliga.«
    »Es wird keine Oberliga geben, Bradley, weil ich dort nicht mehr hingehe, und ich will nicht, dass sich für mich Türen öffnen, solange sie es nicht wegen meiner Musik tun! Und ich glaube nicht, was du gesagt hast, diesen Mist von wegen Plan, das glaub ich nicht …«
    »Ich finde, du solltest dich nicht derart echauffieren. Ich mache mir große Sorgen wegen der Wundnähte …«
    »Bradley, du wirst dir sehr bald überhaupt keine Sorgen mehr wegen irgendwelcher Nähte machen müssen, denn weißt du, was ich jetzt mache? Ich reiße jetzt diese Mumienmaske runter und steck mir die Finger in die Mundwinkel und zieh mein Gesicht in alle Richtungen auseinander! So brutal wie möglich! Verstehst du mich, Bradley?«
    Ich hörte ihn seufzen. Dann sagte er: »Okay, komm wieder runter. Komm einfach wieder runter. Du hattest in der letzten Zeit viel Stress. Das ist verständlich. Wenn du Lindy jetzt nicht sehen willst, wenn du Gold an dir vorbeitreiben lassen willst, bitte sehr, ich verstehe deine Sichtweise. Aber bleib höflich, okay? Lass dir eine plausible Ausrede einfallen. Brich keine Brücken hinter dir ab.«

    Nach dem Gespräch mit Bradley ging es mir viel besser, und ich hatte einen einigermaßen heiteren Abend, an dem ich einen halben Film sah, dann Bill Evans hörte. Am nächsten Morgen nach dem Frühstück kam Dr. Boris mit zwei Schwestern, schien zufrieden und ging wieder. Etwas später, gegen elf, hatte ich Besuch – ein Schlagzeuger namens Lee, mit dem
ich vor ein paar Jahren in einer Hausband in San Diego gespielt hatte. Den Besuch hatte Bradley arrangiert, der auch Lees Manager ist.
    Lee ist okay, und ich freute mich, ihn zu sehen. Er blieb etwa eine Stunde, wir tauschten Neuigkeiten über gemeinsame Bekannte aus, wer in welcher Band spielte, wer sein Zeug gepackt hatte und nach Kanada oder nach Europa gegangen war.
    »Es ist ewig schade, dass so viele von der alten Truppe nicht mehr da sind«, sagte er. »Ist doch wahr. Man hat eine gute Zeit miteinander, und gleich drauf weiß man nicht mehr, wo sie alle sind.«
    Er erzählte von seinen letzten Gigs, und wir lachten über ein paar Erlebnisse in unserer Zeit in San Diego. Kurz bevor er ging, sagte er:
    »Und was sagst du zu Jake Marvell? Was hältst du davon? Verrückte Welt, oder?«
    »Wirklich verrückt«, sagte ich. »Andererseits war Jake immer ein guter Musiker. Er hat es verdient.«
    »Ja, aber verrückt ist es schon. Weißt du noch, wie Jake damals war? In San Diego? Du, Steve, du hättest ihn an jedem einzelnen Abend der Woche von der Bühne herunterblasen können. Und jetzt schau ihn dir an. Ist das einfach Glück oder was?«
    »Jake war immer ein netter Typ«, sagte ich. »Und ich persönlich finde es gut, dass wenigstens ein Saxspieler mal öffentliche Anerkennung kriegt.«
    »Anerkennung

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