Bei Anbruch der Nacht
davon gehört haben. Tja, hören Sie sich unsere Fassung an. Mit spezieller Beachtung des, sagen wir, zweiten Chorus. Oder des Augenblicks, wenn wir mit den acht Takten des A-Teils fertig sind und die Band von C -5 nach B bdim wechselt, während ich in die Höhe gehe, und zwar in Intervallen, die Sie nie für möglich halten würden, und dann dieses süße, sehr zarte hohe B halte. Ich finde, da sind Farben drin, da sind eine Sehnsucht und ein Bedauern, wie Sie’s vorher wahrscheinlich noch nicht gehört haben.
Man könnte also sagen, ich war zuversichtlich, dass diese Aufnahme Lindys Zustimmung finden würde. Und am Anfang, die erste Minute oder so, schien es ihr auch zu gefallen. Sie blieb stehen, nachdem sie die CD eingelegt hatte, und wie beim letzten Mal, als sie mir die Aufnahme ihres Ex vorgespielt hatte, begann sie sich träumerisch in dem langsamen Takt zu wiegen. Aber dann schwand der Rhythmus aus ihren Bewegungen, bis sie, mit dem Rücken zu mir, den Kopf gesenkt, wie scharf konzentriert, stocksteif dastand. Ich sah darin erst mal noch kein schlechtes Zeichen. Erst als sie zurückkam und sich aufs Sofa setzte, während die Musik noch mitten im Fluss war, merkte ich, dass etwas nicht stimmte. Wegen des Verbands konnte ich natürlich ihren Gesichtsausdruck nicht sehen, aber die Art, wie sie im Sofa zusammensackte – wie eine verkrampfte Gliederpuppe -, das sah nicht gut aus.
Als der Track zu Ende war, nahm ich die Fernbedienung
vom Tisch und drehte die Musik ganz ab. Ewig lang, wie mir vorkam, verharrte sie in dieser steifen, hölzernen Haltung. Dann rappelte sie sich ein wenig auf und griff nach einer Schachfigur, die sie befingerte.
»Das war sehr schön«, sagte sie. »Danke, dass Sie es mich haben hören lassen.« Dass es total formelhaft klang, schien sie gar nicht zu merken.
»Vielleicht war das nicht so ganz Ihres?«
»Doch, doch.« Ihr Tonfall war missmutig und leise geworden. »Ausgezeichnet. Danke, dass Sie es mich haben hören lassen.« Sie stellte die Figur auf ein Feld und sagte: »Sie sind dran.«
Ich blickte auf das Schachbrett und versuchte mich zu erinnern, wo wir stehen geblieben waren. Nach einer Weile fragte ich behutsam: »Verbinden Sie vielleicht besondere Erinnerungen mit diesem Stück?«
Sie blickte auf, und ich nahm den Ärger hinter ihren Verbänden wahr. Aber sie sagte im selben leisen Ton: »Mit diesem Stück? Nein, ich verbinde nichts damit. Gar nichts.« Auf einmal lachte sie, es war ein kurzes, unfreundliches Lachen. »Ah, Sie meinen Erinnerungen an ihn , an Tony? Nein, nein. Er hatte das Lied nie in seinem Repertoire. Sie spielen sehr gut. Wirklich professionell.«
» Professionell? Was soll das heißen?«
»Ich meine … dass es wirklich professionell ist. Das sollte ein Kompliment sein.«
»Professionell?« Ich stand auf, durchquerte das Zimmer und nahm meine CD aus der Anlage.
»Worüber sind Sie denn jetzt so sauer?« Ihr Tonfall war immer noch distanziert und kalt. »Hab ich was Falsches gesagt? Tut mir leid, es war nett gemeint.«
Ich kehrte zum Tisch zurück und verstaute die CD in ihrer Hülle, setzte mich aber nicht mehr.
»Also spielen wir diese Partie fertig?«, fragte sie.
»Wenn sie nichts dagegen haben, hätte ich noch einiges zu erledigen. Anrufe. Papierkram.«
»Warum sind Sie sauer? Ich versteh Sie nicht.«
»Ich bin gar nicht sauer. Es ist spät geworden, das ist alles.«
Wenigstens stand sie auf und begleitete mich zur Tür, wo wir uns mit einem kalten Händedruck verabschiedeten.
Ich sagte schon, dass mein Schlafrhythmus nach der Operation ziemlich durcheinandergeraten war. An diesem Abend wurde ich urplötzlich müde, ging früh zu Bett, schlief ein paar Stunden tief und fest, wachte dann aber mitten in der Nacht wieder auf und konnte nicht mehr einschlafen. Irgendwann stand ich auf und schaltete den Fernseher ein. Ich fand einen Film, den ich als Kind mal gesehen hatte, zog mir einen Stuhl vor den Apparat und sah mir mit leise gedrehtem Ton den Rest an. Als der Film vorbei war, sah ich zwei Predigern zu, die sich vor johlendem Publikum gegenseitig anschrien. Alles in allem war ich recht zufrieden. Ich hatte es gemütlich und fühlte mich von der Außenwelt eine Million Meilen entfernt. Deshalb sprang mir fast das Herz aus der Brust, als auf einmal das Telefon läutete.
»Steve? Sind Sie das?« Es war Lindy. Ihre Stimme klang merkwürdig, und ich fragte mich, ob sie getrunken hatte.
»Ja, das bin ich.«
»Es ist spät, ich weiß.
Weitere Kostenlose Bücher