Bei Anbruch des Tages
ihr Kind gab es nicht mehr.
Es war sechs Uhr morgens, und er hörte die Glocken einer Kirche.
Amaranta wimmerte leise. Die Zimmertür ging auf, und eine Krankenschwester sowie der Gynäkologe kamen herein.
Die Schwester beugte sich über die Frau, um ihren Blutdruck zu messen, und der Arzt flüsterte Guido zu: »Gehen wir einen Moment hinaus!«
Als sie auf dem Flur standen, erklärte er: »Wie ich dir bereits gesagt habe, als ich aus dem OP kam, habe ich für deine Freundin und das Kind alles getan, was in meiner Macht stand. Wäre das Ganze erst in einem Monat passiert, hätte man das Kind vielleicht retten können, aber so ⦠Es tut mir leid, Guido. Als ich sie gestern Nachmittag untersucht habe, gab es keinerlei beunruhigende Anzeichen.«
»Was ist genau passiert?«, fragte Guido.
»Das weià ich nicht. Die Untersuchungsergebnisse waren perfekt, die Gebärmutter war tonisch, sie hatte keinerlei Blutungen â nichts wies auf ein so dramatisches Ende hin. Das heiÃt aber nicht, dass ihr keine Kinder haben könnt. Das nächste Mal muss sie sich mehr schonen, und dann wird alles gut gehen«, sagte der Freund.
»Ich fühle mich schuldig. WeiÃt du, wir haben bis zum Schluss miteinander geschlafen. Vielleicht hätten wir das lieber lassen sollen«, stammelte Guido.
»Das ist kein Grund für einen Abgang, glaub mir! Amaranta ist eine starke Frau, und ihr werdet so viele Kinder bekommen, wie ihr wollt. Jetzt wird sie allerdings erst einmal ziemlich deprimiert sein. Also reià dich zusammen und sprich ihr Mut zu!«, befahl der Arzt.
»Das werde ich tun!«, sagte Guido und kehrte ins Zimmer zurück, wo die Schwester gerade über den Tropf ein Schmerzmittel verabreichte.
Als sie allein waren, ging er zu Amaranta und strich ihr lächelnd übers Haar.
»Wie geht es dir?«, fragte sie kaum hörbar.
»Zuerst will ich wissen, wie es dir geht!«, erwiderte er lächelnd.
»Ich fühle mich völlig erschöpft und kann keinen klaren Gedanken fassen.«
»Ich werde dir helfen, mein Schatz«, flüsterte er. »Vergiss nicht, dass wir froh sein können, uns zu haben. Und unsere Liebe.«
»Bis gestern Abend hatten wir auch noch ein Kind«, flüsterte sie.
»Der Herr, an den du dich immer wendest wie an einen engen Verwandten, hat entschieden, dass dieses Kind nicht zur Welt kommen wird.«
Nickend sagte sie: »Du bist müde. Bitte geh nach Hause.«
Er wollte sie nicht allein lassen und sagte ihr das auch.
»Aber ich möchte jetzt gern allein sein«, beharrte sie.
Er kehrte in die Via Mozart zurück und lieà sich noch angezogen aufs Bett fallen. Dann bedeckte er sein Gesicht mit einem Kissen und weinte. Eine überwältigende Traurigkeit erfüllte ihn â nicht nur wegen des verlorenen Kindes, sondern weil er Angst hatte, Amaranta zu verlieren. Als keine Tränen mehr kamen, fiel er in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Er wurde von der Frau des Portiers geweckt, die zum Putzen in die Wohnung gekommen war. Er stand auf und verlieà das Zimmer.
Die Frau sah ihn an, als wäre er ein Gespenst.
»Dottore, geht es Ihnen nicht gut?«
»Bitte machen Sie mir einen Kaffee. Ich gehe unter die Dusche«, sagte er ohne irgendeine Erklärung, und erst als er im Bademantel in die Küche kam, flüsterte er: »Amaranta geht es noch schlechter als mir. Sie hat heute Nacht das Kind verloren.«
Die Frau reichte ihm eine Tasse mit schon gezuckertem Kaffee und sagte: »Das tut mir unendlich leid. Am besten, ich komme später wieder, wenn Sie nicht zu Hause sind.« Dann verabschiedete sie sich.
Auf dem Tisch lag noch das Blatt Papier mit Amarantas Notizen. Er las dort weiter, wo er am Vorabend aufgehört hatte: Zweitens: Ich werde mich zu einem Bibelkreis anmelden. Drittens: Ich werde alle Kleider und Pullis in die Reinigung bringen, die ich seit Monaten in der Kammer verstecke. Viertens: Ich werde ein Mutter-und-Kind-Tagebuch führen. Fünftens: Ich werde den kaputten Reifen meines Fahrrads reparieren. Sechstens: Ich werde Guido beichten, dass ich seine Geschichten heimlich gelesen habe und sie wunderschön finde. Siebtens: Ich werde Guido nicht länger anlügen und behaupten, keinen Knoblauch zu verwenden. Achtens: Ich werde dem lieben Gott nicht mehr mit meinen absurden Anliegen zur Last fallen. Neuntens: Ich werde stets daran denken, dass es immer
Weitere Kostenlose Bücher