Bei Anbruch des Tages
worden war, hatte ihn sorgfältig untersucht und gesagt: »Mein lieber Freund, du bist gesünder als ich, aber alt.«
»Und das sagst ausgerechnet du!«, hatte Amilcare scherzhaft entgegnet.
»Ich bin zwanzig Jahre jünger als du, verglichen mit dir bin noch ein Kind!«
»Dann schuldest du mir Respekt.«
»Ich bringe dir höchsten Respekt entgegen, alter Freund. Deshalb zwinge ich dich nicht zu essen, wenn du nicht willst. Aber ich zwinge dich zu trinken.«
Amilcare hatte gehorcht, und als der Arzt nachmittags noch einmal gekommen war, hatte er gesagt: »Ich will nicht, dass mich der Tod im Bett ereilt. Hilf mir in den Sessel.«
Der Freund hatte ihm geholfen, nachdem er ein Stethoskop aus seinem Koffer geholt und ihn abgehört hatte.
»Lass den Mist!«, hatte Amilcare protestiert und hinzugefügt: »Ich möchte eine letzte Partie Scopone spielen. Ruf Renzo, meinen Sohn, und meinen Enkel und setz dich anschlieÃend zu uns. Ich würde dich nicht darum bitten, wenn mein anderer Sohn hier wäre. Aber er lässt bestimmt nicht mehr lange auf sich warten, man wird ihm Bescheid gegeben haben. Monsignor Cantoni hat die Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen dieser Familie gefeiert. Er kommt immer, wenn es feierlich wird.«
»Amilcare, ich glaube nicht, dass â¦Â«, versuchte der Arzt zu protestieren.
»Du brauchst nichts zu glauben. Hör einfach nur auf mich.«
Kurz darauf saÃen die vier Männer am Spieltisch.
Der Patriarch hielt seine Karten gut fest und spielte die aus, die sein Partner, sein Sohn, gebrauchen konnte. Er war in diesem Spiel stets unschlagbar gewesen, und in der letzten Runde wusste er nach einigen Berechnungen genau, wie viele Punkte seine Gegenspieler erzielt hatten. Sein Sohn und er standen kurz davor zu gewinnen, aber er war müde. Und obwohl er stets behauptet hatte, nicht an Gott zu glauben, flehte er ihn jetzt insgeheim um ein schnelles schmerzloses Ende an.
»Ruft meine Schwiegertochter. Sie soll meinen Platz einnehmen«, sagte er kaum hörbar.
Als Léonie neben ihn getreten war, hatte er kurz den Duft des Lebens eingesaugt. Danach hatte sein Herz endgültig aufgehört zu schlagen.
Monsignor Cantoni war eingetroffen, als der Leichnam des Vaters bereits ins Bett gelegt worden war. Zusammen mit Don Ivano, dem neuen Dorfpfarrer, las er die Totenmesse, und am Tag darauf taufte er den neugeborenen Cantoni, den kleinen Gioacchino. Das Kind erhielt den zweiten Vornamen Amilcare. Monsignor Gioacchino blieb ein paar Wochen, in denen er sich mit seinem Bruder häufig in die Gemächer der Eltern zurückzog. Guido und Léonie vermuteten, dass es um Erbfragen ging. Doch dann merkten sie, dass die beiden Stunden damit verbracht hatten, Briefe und Fotos zu ordnen, weil sie die längst vergangenen Jahre der Kindheit Revue passieren lassen und sich an die Eltern erinnern wollten.
Als der Priester abreiste, fiel Cavalier Renzo Cantoni wieder ein, dass er der Chef der Fabrik war, und er kehrte an seinen Arbeitsplatz zurück.
4
W ir haben ein Problem mit Edilcapitale«, begann CavalierCantoni beim Abendessen das Gespräch.
Dabei handelte es sich um eine Firma aus Rom, die dem Bauunternehmer Ennio Tommasini gehörte. Der errichtete im Hinter land der Hauptstadt Satellitenstädte, wofür er von seinen Kritikern als »dreckiger Spekulant« beschimpft wurde.
Die Cantonis interessierten sich nicht weiter für die wenig schmeichelhaften Urteile über diesen Tommasini. Für sie war er nur ein Kunde von vielen, besser gesagt, einer ihrer besten, schlieà lich bestellte er im Wert von vielen Millionen.
Léonie sah, wie beunruhigt der Schwiegervater wirkte. AuÃerdem brachte er nur selten Probleme aus dem Büro mit nach Hause. Die Lage musste also ernst sein. Sie legte die Gabel weg und wartete darauf, dass er weitersprach.
»Er will keine Rechnungen, stattdessen will er die Summe in bar auf ein Konto in Luxemburg einbezahlen«, verkündete Renzo.
»Das heiÃt, es stimmt, was man in Rom über ihn munkelt«, mischte sich Guido ein.
»Das munkelt man auch über Mailänder Baufirmen. Aber neulich habe ich erfahren, dass Tommasini auf unsere Ländereien scharf ist. Er hat schon den kleinen Adelspalast an der Porta Vittoria gekauft und dort Büros eingerichtet«, erzählte Celina, die in Mailand viele Freundinnen hatte, die mit wichtigen Geschäftsleuten
Weitere Kostenlose Bücher