Bei Einbruch der Nacht
als ob ihm erst jetzt bewußt würde, wie sehr er Camille schockierte. Camille mochte die Dicke. Er schlang seine Arme um sie, rieb ihren Rücken. Er hatte so viele unglaubliche Geschichten gehört, von so vielen alten Frauen, die sich in Grizzlys verwandelt hatten, von Grizzlys, die sich in Schneehühner, und von Schneehühnern, die sich in umherirrende Seelen verwandelt hatten, daß diese verrückten Bestiarien ihn schon seit langem nicht mehr beunruhigten. Der Mensch und das Wilde hatten sich nie gut vertragen. Aber hier in diesem mickerigen Frankreich hatten sie das verdrängt. Und vor allem mochte Camille die Dicke.
»Komm ins Haus«, sagte er, die Lippen in ihrem Haar.
Camille machte das Licht nicht an, weil sie keine Lust hatte, Lawrence alle Worte einzeln aus der Nase zu ziehen. Sie setzte sich in einen alten Korbsessel, zog die Knie an ihr Kinn, verschränkte die Arme. Lawrence öffnete ein Weckglas mit in Schnaps eingelegten Rosinen, schüttete ein Dutzend davon in eine Tasse und streckte sie ihr hin. Sich selbst schenkte er ein kleines Glas Schnaps ein.
»Wir können uns immer noch betrinken«, schlug er vor.
»Mit diesem schäbigen Rest schaffen wir das nie.«
Camille kaute die Rosinen und legte die dicken Kerne in ihre Tasse. Sie hätte sie gern in den Kamin gespuckt, aber Lawrence war dagegen, daß eine Frau in den Kamin spuckte, statt sich über die Brutalität des männlichen Geschlechts und dessen unaufhörliches Spucken zu erheben.
»Tut mir leid wegen Suzanne«, sagte er.
»Vielleicht hat sie doch zu viele afrikanische Sagen und Legenden gelesen«, bemerkte Camille mit müder Stimme.
»Vielleicht.«
»Gibt es in Afrika Werwölfe?«
Lawrence breitete die Arme aus.
»Zwangsläufig gibt es welche. Vielleicht sind es dort Werhyänen oder Werschakale.«
»Erzähl weiter«, sagte Camille.
»Sie weiß, wer es ist.«
»Der Werwolf?«
»Ja.«
»Sag.«
»Massart, der Typ vom Schlachthof.«
»Massart?« Camille schrie fast. »Warum Massart, verdammt?«
Lawrence rieb sich betreten die Wange.
»Sag«, wiederholte Camille.
»Weil Massart keine Behaarung hat.«
Camille hielt mit starrem Arm ihre Tasse hin und Lawrence schüttete einen weiteren Löffel Rosinen hinein.
»Wie, keine Behaarung?«
»Hast du den Kerl mal gesehen?«
»Einmal.«
»Er hat keine Behaarung.«
»Versteh ich nicht«, sagte Camille störrisch. »Er hat Haare wie du und ich. Er hat ein schwarzes Pony, das ihm bis über die Augen hängt.«
»Ich hab gesagt Behaarung. Keine Behaarung, Camille.«
»Du meinst an den Armen, den Beinen, der Brust?«
»Ja, der Typ ist unbehaart wie ein Kind. Ich hab keine Details gesehen. Anscheinend muß er sich nicht mal rasieren.«
Camille kniff die Augen zusammen, um sich das Bild von Massart vor seinem Lieferwagen in Erinnerung zu rufen. Sie sah seine weiße Haut an den Armen und den Wangen wieder vor sich, die neben dem dunklen Teint der anderen Männer so seltsam wirkte. Ja, keine Behaarung, vielleicht.
»Na und?« fragte sie. »Was macht das?«
»Du bist nicht sehr gut in Werwölfen, wie?«
»Nicht sehr.«
»Am Tage würdest du einen nicht erkennen, oder?«
»Nein. Woran sollte ich den armen Alten erkennen?«
»Daran. Ein Werwolf hat keine Behaarung. Weißt du, warum? Weil er sie nach innen trägt.«
»Soll das ein Witz sein?«
»Lies die alten Bücher deines alten bescheuerten Landes. Dann wirst du sehen. Da steht's geschrieben. Und auf dem Land wissen das haufenweise Leute. Auch die Dicke.«
»Suzanne.«
»Suzanne.«
»Die Sache mit der Behaarung wissen alle?«
»Das ist nicht irgendeine Sache. Das ist das Merkmal des Werwolfs. Es gibt kein anderes. Er hat seine Körperhaare innen, weil er ein umgekehrter Mann ist. Nachts kehrt er sich um, und dann erscheint seine haarige Haut.«
»So daß Massart nichts anderes wäre als ein auf links gewendeter Pelzmantel?«
»Wenn du so willst.«
»Und seine Zähne? Sind die auch zum Wenden? Wo räumt er die tagsüber hin?«
Lawrence stellte sein Glas auf den Tisch und wandte sich zu Camille um.
»Es nützt nichts, wenn du dich aufregst, Camille. Bullshit, das sag doch nicht ich, sondern die Dicke.«
»Suzanne.«
»Suzanne.«
»Ja«, erwiderte Camille. »Entschuldige.«
Camille stand auf, packte das Einmachglas mit den Rosinen und leerte es in ihre Tasse. Rosine für Rosine lockerten sich ihre Muskeln allmählich. Die Herrin von Les Écarts brannte im Nebenraum ihrer Küche eine Unmenge Schnaps - sie nannte es
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