Bei Einbruch der Nacht
beobachtete den Wacher, der, das Telefon am Ohr, mit aufmerksamem Gesicht am Straßenrand auf und ab ging und seine Worte mit beruhigenden Gesten begleitete. Seine würdevolle Stimme klang zu ihr herüber, sie hörte etwas lauter gesprochene Satzfetzen wie »Hör zu, was ich dir sage, meine Liebe«. Soliman folgte Camilles Blick.
»Glaubst du, daß ein Bulle sich für das alles interessieren könnte?« fragte er mit einer vagen Geste, die die Berge, sie drei und den Viehtransporter zugleich zu umfassen schien.
»Ich frage es mich«, murmelte Camille. »Das Spiel ist noch nicht gewonnen.«
»Verstehe«, sagte Soliman.
25
Camille war auf das rechte Rhone-Ufer hinübergegangen und hatte die Stadtmauern Avignons auf der anderen Seite des Flusses gelassen. Seit drei Uhr nachmittags lief sie auf der Suche nach Adamsberg unter der sengenden Sonne den Uferweg entlang nach Süden. Niemand hatte ihr genau sagen können, wo sie ihn finden würde, weder im Hotel noch im Hauptkommissariat, wo er die halbe Nacht verbracht und das er gegen zwei Uhr nachmittags verlassen hatte. Man wußte nur, daß der Kommissar sich auf der anderen Flußseite herumtrieb.
Camille machte ihn nach fast einer Stunde Fußmarsch auf einer schmalen, einsamen Lichtung inmitten von Trauerweiden ausfindig. In etwa zwanzig Schritt Entfernung blieb sie stehen. Adamsberg hatte sich ganz am Rand der Böschung niedergelassen, die Füße im Wasser. Allem Anschein nach tat er nichts, aber für Adamsberg war Draußen-Sitzen eine Beschäftigung an sich. Als sie ihn genauer beobachtete, bemerkte Camille, daß er tatsächlich etwas tat. Er tauchte einen langen Ast in den Fluß, und sein Blick, der aufmerksam auf die Strömung achtete, die gegen das schwache Hindernis anbrandete, wandte sich nicht von dessen Spitze ab. Er hatte - eine ziemlich ungewöhnliche Tatsache - sein Holster über seinem Hemd anbehalten, diese immer etwas furchteinflößenden Lederriemen, die im Widerspruch zu seiner nachlässigen Kleidung standen, zu dem zerknitterten Hemd, zu der abgewetzten Stoffhose und den bloßen Füßen.
Camille sah ihn in Dreiviertelansicht von hinten, fast im Profil. Er hatte sich in den vergangenen Jahren nicht verändert, und das erstaunte sie nicht. Nicht, daß die Zeit ihn stärker verschont hätte als andere, aber ihre Spuren waren kaum sichtbar, ganz einfach, weil Adamsberg dafür ein viel zu abwechslungsreiches Gesicht hatte. Auf einem glatten und regelmäßigen Gesicht hätte jede Unordnung der Zeit ihre Spur hinterlassen. Aber Adamsbergs Gesicht war seit seiner Kindheit in Unordnung. So gingen die feinen Spuren des Alters in seinen ungleichen und stürmischen Zügen im allgemeinen Chaos des Ganzen weitgehend unter.
Camille zwang sich, einfach nur aus Vorsicht, dieses Gesicht zu betrachten, das sie einmal über alle anderen gestellt hatte. Die Nase, die Lippen - im Grunde hielt alles darin einer Prüfung stand. Die große, ziemlich krumme Nase, die verträumten und kräftig gezeichneten Lippen. Keine Harmonie, kein Maß, keinerlei Nüchternheit. Ansonsten ein dunkler Teint, magere Wangen, ein fast nicht vorhandenes Kinn, dunkles, gewöhnliches Haar, das hastig nach hinten gestrichen war. Braune Augen, die tief unter wirren Brauen lagen, selten stillstanden und meistens unbestimmt blickten. Alles war schief in diesem Gesicht. Woher dieser ungewöhnliche Reiz kam, hatte Camilles unerbittlicher Geist nicht erhellen können. Vielleicht war es eine Sache der Intensität. Adamsbergs Gesicht war zu überladen, zu deutlich und damit sozusagen übersättigt.
Camille sah all das wieder, und sie machte eine nüchterne Bestandsaufnahme. Früher hatte ihr das Leuchten dieses Gesichts Frieden und Klarheit eingeflößt. Heute betrachtete sie sein Strahlen mit Gleichmut, so wie sie das richtige Funktionieren einer Lampe überprüft hätte. Dieses Gesicht sagte ihr nichts mehr, und nichts in ihrer Erinnerung konnte ihm mehr antworten.
Sie näherte sich ihm mit langsamen, vor Gleichgültigkeit fast schwerfälligen Schritten. Adamsberg hörte sie sicherlich, aber er rührte sich nicht und überwachte noch immer den Ast vor ihm, der das Wasser der Rhône bremste. Als sie zehn Schritte von ihm entfernt war, blieb sie abrupt stehen. Ohne seinen Blick vom Fluß abzuwenden, richtete er mit seiner linken Hand den Lauf einer Pistole auf sie.
»Keinen Schritt weiter«, sagte er sanft. »Geh bloß keinen Schritt weiter.«
Camille blieb stehen, ohne ein Wort zu sagen.
»Du
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