Bei Tag und bei Nacht
Grant sie küsste. Ein Schritt nur oder zwei, und sie würde stürzen und auf den nassen, steinigen Strand fallen. Aber die wenigen Sekunden schwindelerregender Freiheit wären das Risiko wert. Ihr Seufzen klang nach Verlockung und Triumph.
Grant murmelte eine Verwünschung gegen Gennies Lippen, als er sich zwang, sie loszulassen. Trotz aller guten Vorsätze war genau das eingetreten, was nicht hätte geschehen dürfen.
Gennies Gesicht war weich und glühte voller Leidenschaft. Sie legte ihren Kopf zurück, und das schwarze Haar flatterte im Wind. Es drängte Grant, seine Lippen auf die goldbraune Haut ihres Halses zu pressen. Aus ihren halb geschlossenen Augen schimmerte die zeitlose Macht der Frau über den Mann.
Diese plötzliche Erkenntnis stärkte Grants Widerstand. Es war eine Falle, und er würde nicht hineintappen, wer auch immer den Köder auslegte. Seine Stimme klang leise, als er mit zornigem Blick sagte: »Kann sein, dass ich dich begehre. Vielleicht nehme ich dich sogar. Aber es wird dann sein, wenn es mir passt und wenn ich Lust dazu habe. Wenn du den Ton angeben möchtest und die Spielregeln festsetzen willst, dann bleib bei deinen Grafen und Baronen.« Er drehte sich um und ging laut fluchend davon.
Gennie war viel zu verdutzt, um sich zu bewegen. Sie schaute Grant nach, bis er im Leuchtturm verschwunden war. Mehr hatte es ihm nicht bedeutet? Einfach nur ein Mann und eine Frau, und dazu etwas Leidenschaft? Hatte er nicht den quecksilbrigen Schmerz gespürt, der Vereinigung anzeigte, Vertrautheit, Schicksal?
Spielregeln! Wie konnte er so etwas nach diesen Minuten sagen? Gennie schloss die Augen und strich unsicher das Haar aus der Stirn.
Nein, der Fehler lag bei ihr. Sie bewertete den Vorfall zu hoch. Zwischen zwei Menschen, die sich kaum kannten, gab es keine Vereinigung. Und Vertrautheit war nur eine Entschuldigung für körperliches Begehren.
Sie hatte geträumt und verwandelte etwas völlig Normales in ein spezielles Wunder, weil sie es sich wünschte.
Ach was, sollte er doch gehen. Gennie bückte sich, hob ihren Block auf und fand auch den Bleistift, der heruntergefallen war. Konzentrier dich auf deine Arbeit, schalt sie sich. Es war die Stimmung hier, die dich überwältigt hatte, und nicht die Person. Ohne sich umzusehen, ging sie zu ihrem Wagen.
Ihre Hände zitterten noch immer, als sie die Abzweigung zu ihrem Haus erreichte. Gennie lauschte dem gleichmäßigen Schwappen des hereinfließenden Wassers und dem freundlichen Zwitschern der Schwalben, die ihr Nest aufsuchten. Frieden lag über allem, und sie merkte, dass ihre Ruhe zurückkehrte. An diesem Ort musste sie bleiben und sich von Ruhe und Einsamkeit beeinflussen lassen. Wer die Naturgewalten herausforderte, hatte wenig Chancen zu gewinnen. Nur ein Narr ließ sich auf diesen ungleichen Kampf ein.
Müdigkeit überkam Gennie. Langsam stieg sie aus dem Auto und spazierte zum Ende des Seestegs. Dort setzte sie sich auf die raue Anlegestufe und ließ ihre Füße über den Rand baumeln. Wenn sie hier bliebe und nicht zum Leuchtturm fahren würde, wäre sie sicher.
Gennie beobachtete den Sonnenuntergang, während sie auf ihren Lippen noch immer Grants herrischen Mund fühlte. So leidenschaftlich und voller Begierde hatte sie noch kein Mann geküsst. Fast wäre auch er schwach geworden, aber vielleicht bildete sie sich das nur ein. Denn so erfahren, wie Grant meinte, war sie gewiss nicht.
Sie kannte zwar eine Menge Männer, war mit ihnen ausgegangen und genoss männliche Gesellschaft, aber stets war ihre künstlerische Arbeit wichtiger gewesen. Deshalb störte Gennie auch das Image nicht, das die Presse ihr angehängt hatte.
Würden die Zeitungen schockiert reagieren, wenn herauskam, dass Genevieve Grandeau aus New Orleans, die erfolgreiche Künstlerin und Mitglied der oberen Zehntausend, noch nie einen Liebhaber gehabt hatte?
Lächelnd stützte sie sich auf ihre Ellbogen. Schon seit Jahren war sie mit der Malerei verheiratet, sodass ein Liebhaber ganz überflüssig geworden war. Bis heute. Gennie wollte den Gedanken verdrängen, schalt sich dann einen Feigling und gestand es sich ein. Bis heute, bis zu Grant Campbell.
Noch einmal fühlte sie die Erregung und das Begehren, das Grant in ihr geweckt hatte. Ohne darüber nachzudenken, würde sie sich ihm dort zwischen den Klippen hingegeben haben. Aber er hatte sie zurückgewiesen.
Nein, eigentlich noch schlimmer. Die Erinnerung ließ Ärger in ihr aufkommen. Jemanden zurückweisen
Weitere Kostenlose Bücher