Bei Tag und bei Nacht
Stuhl.
»Es ist eine gute Sache, wenn Mann und Frau die gleichen Interessen haben«, verkündete Daniel mit einer Stimme wie ein Prediger. »Das festigt die Ehe.«
»Ich könnte allerdings nicht behaupten, du hättest mir oft in der Chirurgie geholfen«, spottete Anna milde.
Daniel räusperte sich. »Bei unseren Kindern habe ich schon ein paar blutige Knie verbunden.«
»Und dann, als Rena Alan die Nase gebrochen hat«, warf Caine ein.
»Dabei sollte es deine sein«, erinnerte ihn seine Schwester.
»Warum hat Rena denn Alan die Nase gebrochen, wenn sie dich meinte?«, erkundigte sich Diana lachend.
»Ich habe mich geduckt«, erklärte Caine.
Gennie folgte der Unterhaltung und zeichnete derweil. Welch eine Familie, dachte sie und spürte, dass das Bild ihr gelang. Grant sagte etwas zu Shelby, die protestierte und dann lachte. Einen neuen Vorstoß von Daniel überhörte er. Schließlich machte er eine Bemerkung über den Regierungssprecher, und Alan lachte dröhnend.
Grant gehört zu ihnen, fand Gennie, als käme er aus der gleichen Kiste. Witzig, intelligent und aufgeschlossen – und doch sah sie ihn noch immer auf dem Leuchtturm, wie er jeden in die Flucht trieb, der sich dorthin verlief. Er hatte sich der veränderten Situation vollkommen angepasst, aber von seiner Persönlichkeit dabei nichts verloren. Er war zugänglich, wenn er es sein wollte – und damit hatte es sich.
Nach einem letzten Blick signierte Gennie das Bild. »Fertig!«, rief sie, drehte die Staffelei um und gab ihr Werk zur Besichtigung frei. »Die MacGregors und Company.«
Sie umringten Gennie fröhlich und aufgeregt, jeder von ihnen hatte seine sehr bestimmte Meinung über die Ähnlichkeit der anderen auf der Skizze.
Gennie spürte eine Hand auf ihrer Schulter und wusste sofort, wessen Hand es war.
»Es ist wunderschön«, murmelte Grant und prüfte die Art und Weise, wie Gennie sich selbst an seine Seite gemalt hatte. Er beugte sich herab und küsste ihr Ohr. »Und das bist auch du.«
Gennie lachte, und das kostbare Gefühl der Zusammengehörigkeit mit Grant und diesen Menschen hier blieb ihr noch tagelang.
Der September brachte einen herrlichen Altweibersommer. Es blühte noch überall, und das Laub der Blaubeerbüsche färbte sich flammend rot. Gennie konnte nicht genug von diesem Naturschauspiel bekommen und saß stundenlang vor ihrer Staffelei.
Grants tägliche Routine hatte sich unmerklich verändert. Er arbeitete intensiver und über kürzere Zeiträume. Zum ersten Mal seit Jahren verlangte ihn nach Gesellschaft – nach Gennies Gesellschaft.
Sie malte, und er zeichnete. Später trafen sie sich. Manche Nächte verbrachten sie in dem riesigen Federbett in Gennies kleinem Haus. An anderen Tagen erwachten sie morgens zusammen im Leuchtturm vom Geschrei der Möwen und dem Brausen der Brandung. Manchmal besuchte Grant sie unerwartet tagsüber, brachte eine Flasche Wein oder Kartoffelchips mit.
Einmal brachte er eine Handvoll Wildblumen. Gennie war so gerührt, dass sie weinen musste, bis Grant sie in das Haus zog und sie liebte.
Es war eine friedliche Zeit für beide. Warme Tage und kühle Nächte … Wie aber würde es weitergehen, wenn der wolkenlose Himmel den Herbststürmen wich?
»Das ist perfekt!«, rief Gennie, um den Lärm des Motors von Grants Boot zu übertönen. Blaues Meer lag endlos vor ihnen. »Man könnte ungestört bis nach Europa schippern.«
Grant lachte und spielte mit ihrem windzerzausten Haar. »Warum sagst du das erst jetzt? Ich hätte volltanken müssen.«
»Sei nicht so nüchtern! Stell es dir nur vor, wir wären viele Tage auf See.«
»Und Nächte.« Grant beugte sich herab und knabberte an Gennies Ohr. »Bei Vollmond und zwischen Haien.«
Spielerisch hielt Gennie sich an Grant fest. »Wer beschützt dann wen?«
»Wir Schotten sind zu zäh. Haie bevorzugen die zartere französische Delikatesse.« Seine Liebkosungen wurden eindeutiger. Genussvoll schmiegte sich Gennie an Grant.
Vielleicht endet dieser Sommer niemals, wünschte sie. Oder wir könnten weiter und weiter fahren, ohne dass uns etwas zurückruft. Aber der November rückte näher, und damit die fest geplante Ausstellung in New York. Ach was, bis dahin haben wir noch volle zwei Monate Zeit, dachte Gennie. Weshalb sich jetzt schon Kopfzerbrechen machen! Der Augenblick gilt, und der ist wunderschön.
Würde sie New Orleans für Grant aufgeben? Ein Leben zusammen hier in Windy Point war leicht vorstellbar in dem alten Bauernhaus neben
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