Bei Tag und bei Nacht
irgendwie verloren. Mit einem Blick konnte Gennie sehen, dass die Schattierungen auf seine Depression und auf seine Einsamkeit hinweisen sollten. Grant war wirklich ein Künstler. Mit wenigen Strichen fesselte er den Betrachter und brachte ihn in die gewünschte Stimmung.
Im ersten Abschnitt saß Macintosh allein da, die Ellbogen auf die Knie gestützt und das Kinn in den Händen vergraben. Weder Worte noch Zwischentexte waren notwendig, um sein Elend deutlich zu machen. Die Sympathie der Leser wurde sofort geweckt. Wer ist dem armen Kerl diesmal auf den Zeh getreten?
Es klopft an der Tür, und er murmelt – er musste einfach murmeln: »Herein.« Aber als Ivan, der russische Emigrant, eintritt, verändert er seine Haltung nicht. Ivan liebt es, sich stark amerikanisch zu kleiden – diesmal in einem Westernanzug einschließlich Cowboyhut und Stiefeln.
»Hey, Macintosh, ich hab zwei Karten für das Baseballspiel!«
Keine Reaktion. Ivan zieht einen Stuhl heran und schiebt den Hut in den Nacken. »Du kannst das Bier bezahlen, du bist Amerikaner. Und wir nehmen dein Auto.«
Auch diesmal keinerlei Reaktion.
»Lässt du mich fahren?« Ivan stupst Macintosh mit einer Stiefelspitze an.
»Oh, hallo, Ivan.« Macintosh verfällt wieder in seinen Trübsinn.
»Hör mal, hast du ein Problem?«
»Veronica hat mich verlassen.«
Ivan schlägt die Beine übereinander und wippt mit dem Fuß. »Wegen eines anderen Kerls, oder?«
»Nein.«
»Was dann?«
Macintosh ändert seine Stellung nicht im Geringsten, das gibt der Situation das Spezielle. »Weil ich selbstsüchtig war, grob, arrogant, unehrlich, töricht und überhaupt widerlich.«
Ivan betrachtet seine Stiefelspitze. »Ist das alles?«
»Ja.«
»Frauen!«, sagt Ivan und zuckt mit den Schultern. »Sie sind nie zufrieden.«
Gennie las den Strip zweimal durch, dann schaute sie hilflos auf. Wortlos nahm Serena ihr die Zeitung aus der Hand und schaute selbst. Sie lachte einmal, dann legte sie das Blatt beiseite.
»Soll ich dir beim Packen helfen?«
Wo zum Teufel war sie? Grant wusste selbst, wie unsinnig es klang, sich das immerzu zu fragen.
Wo zum Teufel war Gennie?
Vom Ausguck des Leuchtturms konnte er meilenweit über das Land blicken. Aber Gennie war nirgendwo. Der Wind blies ihm ins Gesicht, als er auf die See starrte und sich andauernd überlegte, was um Himmels willen er tun sollte.
Sie vergessen? Grant konnte gelegentlich das Essen oder das Schlafen vergessen – aber niemals Gennie. Unglücklicherweise erinnerte er sich ganz genau an die letzten zehn Minuten, die sie zusammen verbracht hatten. Warum war er ein solcher Narr gewesen? Oh, das war leicht, dachte er angewidert. Darin hatte er ja Übung.
Wenn er dann nicht zwei Tage hätte verstreichen lassen, indem er sie, sich selbst und die ganze Welt verdammte und ruhelos am Strand herumgelaufen war, vielleicht wäre es noch nicht zu spät gewesen. Als er sich endlich eingestand, dass sein Herz gebrochen war, konnte er von Gennie keine Spur mehr finden. Das kleine Häuschen war verschlossen, die Witwe Lawrence wusste nichts und sagte noch weniger.
Grant war nach New Orleans geflogen und hatte nach Gennie gesucht wie ein Wahnsinniger. Ihre Wohnung war leer, die Nachbarn hatten nichts von ihr gehört. Um ihre Großmutter ausfindig zu machen, musste er alle Grandeaus aus dem Telefonbuch durchprobieren. Als er die alte Dame endlich erwischte, war die Antwort auch negativ. Gennie befinde sich auf Reisen.
Ja, zweifellos. Wahrscheinlich fuhr sie so schnell und so weit von ihm weg, wie es nur irgend ging.
Grant hatte schließlich auch bei den MacGregors angerufen und glücklicherweise Anna erwischt und nicht Daniel. Sie machte ihm Mut, wusste aber auch nichts.
Alles könnte ein Traum gewesen sein, wäre nicht das Gemälde mit dem Leuchtturm zurückgeblieben, das kurz vor dem Gewitter fertig wurde, als sie sich auf dem Rasen zum ersten Mal geliebt hatten. Es stand einfach da, doch weder ein Brief noch ein Zettel steckten daran. Grant wollte das Bild über die Klippen ins Meer werfen, aber jetzt hing es in seinem Schlafzimmer und machte ihn jedes Mal, wenn er es ansah, noch unglücklicher.
Früher oder später, das versprach er sich, würde er sie finden. Ihr Name und ihr Foto mussten in einer Zeitung auftauchen. Er würde sie aufspüren und zurückbringen.
Zurückbringen, ha! Grant fuhr heftig mit einer Hand durch sein Haar. Bitten würde er, flehen, sich ihr zu Füßen werfen – was auch immer nötig wäre,
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