Bei Tag und bei Nacht
musterten sie prüfend. Sie war blass und sah genauso elend aus wie an dem Tag, als sie unerwartet hier angekommen war. Und ihr fehlte Schlaf. Justin erkannte den tiefunglücklichen Ausdruck in ihren Augen. Was immer zwischen ihr und Grant geschehen war, es hatte seine Spuren hinterlassen.
»Wie wäre es mit Frühstück?« Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er Gennies Arm und führte sie zu seinem Privatlift.
»Du bist die einzige Cousine, an der mir liegt, Genevieve. Ich habe es satt, deine Selbstzerstörung zu verfolgen.«
»Das tue ich doch nicht!«, sagte Gennie entrüstet, legte aber dann den Kopf müde an Justins Schulter.
Der Fahrstuhl hielt, und Justin schob Gennie hinein. »Wie viel hast du mir abgenommen?«
Gennie musste einen Moment lang überlegen, bis sie verstand, dass er das Thema gewechselt hatte. »Das weiß ich nicht genau, ungefähr fünf- oder sechshundert.«
»Dann geht das Frühstück auf deine Rechnung«, meinte er trocken und führte Gennie in seine und Serenas Wohnung, als die Lifttüren sich öffneten. Es gefiel ihm, dass er sie zum Lachen bringen konnte.
»Typisch Mann«, meinte Serena schmunzelnd, als Gennie und Justin den Wohnraum betraten, »schneit im Morgengrauen mit einem schönen Mädchen herein, während die eigene Frau zu Hause bleiben muss, um dem Baby die Windeln zu wechseln.« Dabei hob sie Robert in die Luft.
Justin küsste sie. »Nichts ist schlimmer als Eifersucht.« Er nahm ihr seinen Sohn ab, und Serena ließ sich aufatmend in einen Sessel fallen. »Robert kriegt Zähne«, erklärte sie, »und ist ziemlich unleidlich.«
»Ist das wahr?« Justin steckte dem Knirps seine Fingerknöchel in den Mund. Es schien ihm gutzutun, die schmerzenden Stellen daran zu reiben. »Wird auch vorübergehen.«
Serena gähnte. »Habt ihr zwei schon etwas gegessen?«
»Gennie wurde soeben von mir zum Frühstück eingeladen.« Serena verstand Justins Blick und sah mitfühlend zu Gennie hin. »Das war eine gute Idee.« Sie nahm den Hörer vom Haustelefon ab. »Es ist fabelhaft praktisch, wenn man in einem Hotel mit Room Service wohnt.«
Während Serena ihre Bestellung durchgab, betrachtete Gennie die Räume. Hier war früher ein Hotelappartement gewesen, aber davon war nichts mehr geblieben. Es war Serena sehr gut gelungen, eine geschmackvolle, gemütliche Wohnung daraus zu machen. Justin spielte mit dem Baby auf einer Couch. Serena gab mit melodischer Stimme der Küche Anordnungen – eine harmonische Familie.
Wenn man sich liebt, dachte Gennie, kann man überall sein Zuhause haben. Rena und Justin ist es jedenfalls gelungen.
Wäre sie nicht dazu auch bereit gewesen? New Orleans wäre ein Ort für Besuche gewesen, um die Familie zu sehen und alte Verbindungen zu pflegen. Sie hätte ein Heim an der rauen, felsigen Küste schaffen können – für ihn, mit ihm. Sie wäre Grant entgegengekommen, wenn er es nur angenommen hätte. Aber vielleicht erschien ihr das alles nur so, und das Ganze war viel komplizierter. Vielleicht war Grant einfach nicht fähig, etwas anzunehmen. Das müsste sie akzeptieren – und dann endgültig diese Tür schließen.
»Der Ozean ist wunderschön am Morgen.« Serena war hinter Gennie ans Fenster getreten.
»Ja.« Gennie wandte sich um. »Ich habe mich an den Anblick gewöhnt. Wir lebten ja immer am Fluss.«
»Wirst du dorthin zurückkehren?«
»Irgendwann sicherlich.«
»Das ist der falsche Weg, Gennie.«
»Serena!« Justins Stimme klang warnend im Hintergrund. Aber Serena drehte sich zu ihm um und rief temperamentvoll: »Verdammt, Justin, sie ist doch so unglücklich! Nur ein dickköpfiger, uneinsichtiger Mann kann eine Frau so elend machen.«
»Das beruht auf Gegenseitigkeit«, erwiderte Justin ruhig.
»Ja.« Serena lachte ein wenig und fuhr sich mit der Hand durch das Haar. »Und wenn er zu dickköpfig ist, muss man ihn als Frau ein bisschen stoßen.«
»Grant wollte mich ja nicht haben«, mischte Gennie sich ein. Die Worte taten weh, aber wenigstens hatte sie die Kraft gehabt, es auszusprechen. »Nicht für immer oder jedenfalls nicht genug. Er konnte einfach nicht glauben, dass wir für unsere Probleme eine Lösung gefunden hätten. Er wollte nicht teilen, wollte sich überhaupt nicht in mich verlieben. Er will von niemandem abhängig sein.«
Während sie sprach, stand Justin auf und brachte Robert in das Kinderzimmer. Die Melodie einer Spieluhr klang durch die offene Tür. »Gennie«, begann er, als er zurückkam, »weißt du Bescheid über
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