Bei Tränen Mord: Roman (German Edition)
verdrängt habend, wer dort arbeitete – meine Eltern besuchte.
Richtig mitgenommen hat mich die Nachricht seines Todes nicht, eher ein wenig irritiert.
Der Unfall muss unmittelbar nach meinem Weggang passiert sein. Die Mitarbeiter des
alten Sacks waren schon alle zu Hause, meine Eltern bemerkten nichts, sondern eine
Nachbarin, die mit ihrem Hund Gassi ging, hörte den Aufprall, als der Mann aus etwa
fünf Metern Höhe auf den Boden knallte.
Chrissi,
die sich während meiner Grübeleien ebenfalls die Hände gewaschen hat, und Herta
bleiben wie einfältige Schwestern abwartend im Vorraum stehen. Nicht die Spur eines
schlechten Gewissens schlägt mir entgegen.
»Habt ihr
von Harko Schaaf gesprochen? Was ist mit ihm?«
Sie nicken.
»Er is vom Auto überfahren worden, in der verkehrsberuhigten Zone.« Herta rückt
ein letztes Mal ihren Rock zurecht und sieht auf ihre Armbanduhr.
»En Unfall«,
fügt Chrissi hinzu und drängelt Herta zur Tür. Wir wissen ja alle, dass Dürri am
liebsten die Zeit stoppen würde, wenn wir die Toilette aufsuchen.
»Na ja,
wieder einer weniger auf der Horrorliste.« Ich zucke die Achseln, die beiden grinsen.
Wir sitzen doch alle in einem Boot, soll das heißen. »Ich kann nicht behaupten,
dass ich ihn vermissen werde.«
Herta und
Chrissi schieben sich kichernd durch die Tür, ich überprüfe, ob mein Headset wieder
trocken ist, und gehe dann ebenfalls an meinen Platz zurück. Puh, heute werde ich
wohl keinen Rekord aufstellen, ich habe noch nicht ein einziges Verkaufsgespräch
geführt. Außer mit Kat, und das gilt nicht.
Wie es der
Beginn des Morgens und die unschöne Szene mit Dürri erwarten lassen, gelingt es
mir tatsächlich nicht, ordentliche Abschlüsse zu tätigen. Ich weiß nicht, ob ich
abgelenkt bin oder meine Stimme krächzt. Vielleicht klinge ich einfach unfreundlich.
Jedenfalls ist der Wurm drin.
Und dann
geschieht etwas, das mich nervös mein T-Shirt zurechtziehen lässt. Warum habe ich
nicht besser auf meine Garderobe geachtet? Na ja, dieser Tage legt der Sommer so
richtig los, und all meine modischen T-Shirts sind in der Wäsche, sämtliche Blusen
warten schon seit letztem Sommer darauf, gebügelt zu werden. Also habe ich heute
Morgen in meinen ausgebeulten Wohlfühljeans und BH vor dem Schrank gestanden und
nichts anderes als dieses kleine Shirt mit der Hibiskusblüte gefunden. Die Farbe
finde ich ja nach wie vor richtig genial. Eine Mischung aus Türkis und Himmelblau,
die meine Augen leuchten lässt. Auch der natürliche Bronzeton meiner Haut kommt
damit gut zur Geltung, und mein schwarzer Lockenkopf bildet einen wunderbaren Kontrast.
Schade nur, dass es so richtig, richtig unmodern ist. Und dann auch noch in Kombination
mit diesen unmöglichen Jeans. Wenn ich wenigstens meine Manolos (schluchz!) als
Eyecatcher trüge … Nein, orangerote Hawaii-Flipflops mussten es sein. Wie eine einfältige
Landpomeranze sitze ich in der heimlichen Hauptstadt des Saarlandes im Callcenter
und würde am liebsten im Boden versinken.
Warum ist
dieser Traumtyp nicht gestern hier aufgetaucht, als ich meinen Minirock, mein Blüschen
und vor allem meine Manolos trug? Ich bin nicht die Einzige, deren Blick zum Fahrstuhl
wandert und dort hängen bleibt, als der große Dunkelhaarige heraustritt. Kennen
Sie die Coca-Cola-Werbung mit diesem Kerl, der eine Kiste auf der Schulter trägt?
Dann wissen Sie, was ich meine.
Ich gebe
mich einem Tagtraum mit diesem Mann hin, den ich noch nie zuvor gesehen habe. Ich
male mir aus, wie sein wohldefinierter Körper ohne Hemd aussieht, und stelle mir
vor, seine Bauchmuskeln zu berühren. Fast nehme ich den Geruch seiner Haut wahr.
Ob er seine Brust epiliert?
Ich beobachte
jeden seiner Schritte und bewundere seine Gesäßmuskulatur. Er sucht Dürris Büro
auf, und ich darf den Anblick seiner Kehrseite noch eine Weile genießen, da dessen
Bürotür aus Glas ist. Sein Gesicht habe ich mir noch gar nicht richtig angesehen,
oberflächlich wie ich bin. Diese selektive Wahrnehmung kann ich nur auf mein einsames
Dasein zurückführen. Meine letzte Beziehung liegt schon fast ein Jahr zurück. Und
mein Ex war rein optisch nicht direkt eine Offenbarung. Im Gegensatz zu dem Typ
mit dem Knackarsch in Dürris Büro.
Ich stütze
das Kinn auf und betrachte ihn genau, als er sich in Zeitlupe umdreht, sodass ich
jede Einzelheit seines Gesichts scannen kann. Dunkelbraune Augen hinter einer klassischen
Hornbrille, an der rechten Wange eine kleine helle Narbe. Sofort
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