Bei Tränen Mord: Roman (German Edition)
bloß geritten, einen von Dürris Rillos zu rauchen? Ich hinterlasse
auf dem weiß gestrichenen Beton einen schwarzen Fleck, als ich die Kippe ausdrücke.
Dann schnipse ich den angerauchten Rillo in die Luft und sehe ihm nach, wie er in
die Tiefe trudelt. Mein Blick wandert zum Kirchengebäude direkt vor mir. Von hier
oben sieht der Turm ganz anders aus als von unten. Es ist irgendwie witzig, mit
dem lieben Gott so ein bisschen auf Augenhöhe zu sitzen. Ist natürlich Quatsch,
aber trotzdem. Ich mag Gott. Und diese Kirche mag ich auch. Ich kichere. Hat der
Rillo eine halluzinogene Wirkung? Oder eine lalluzinogene … Wieder giggle ich.
Mit Wonne
ziehe ich langsam alle Glimmstängel aus der Packung und lege sie neben mir auf die
Brüstung, schön aufgereiht. So wie ich es früher immer mit Gummibärchen gemacht
habe. Ach, was heißt da früher? Auch heute mache ich es noch so. Ich baue kleine
Szenarien mit den bunten Bärchen auf, bevor ich sie nach und nach verspeise. Geht
natürlich nur, wenn ich allein bin. Aber das bin ich ja abends in der Regel …
Dann wage
ich einen erneuten Blick nach unten. Kein Fußgänger weit und breit zu sehen; die
schlendern alle vor den Gebäuden vorbei, nicht dazwischen. Ganz schön tief geht
es hinunter. Verbundsteine dort unten. Die lassen sich leicht von den Rilloresten
säubern, man muss bloß einmal kehren. Ich atme tief durch, das Kribbeln in meiner
Brust verstärkt sich wieder. Dann zerfleddere ich einen Zigarillo nach dem anderen
und lasse die Fetzchen und Tabakkrümel hinunterrieseln.
Welch ein
innerer Vorbeimarsch!
Als die
letzten braunen Krümelchen vom Winde verweht sind, stehe ich langsam auf, raffe
meine Tasche an mich und klettere zurück auf das Dach.
Umpf! Ich
krümme mich zusammen. In meinem Magen ist der Teufel los. Dann spüre ich ein fieses
Ziehen im Unterleib. Schnell zur Toilette! Ohne das City-Panorama, den Zaun oder
das Türchen ein letztes Mal zu beachten, renne ich rasch zu der weißen Metalltür
und haste an einem jungen Mann vorbei, der gerade auf das Dach tritt – bin ich also
doch nicht die Einzige, die den Gedanken an diesem holden Sommertage hatte – und
hinunter, bis ich in der zum Glück leeren Toilette ankomme. Niemand wird Zeuge der
Geräusche und Gerüche, die ich in mehrfacher Ausfertigung produziere. Meine Güte,
so übel war mir ja noch nie!
Ich brauche
eine längere Rekonvaleszenzzeit, bevor ich auf zittrigen Knien zurück zu meinem
Arbeitsplatz wanke. Wie durch ein Wunder hat Dürri nichts von meiner Abwesenheit
bemerkt. Er steht am Schreitisch einer Kollegin und unterhält sich mit ihr. Die
Fahrstuhltür öffnet sich soeben, und Maurice tritt ein. Als er mich entdeckt, deutet
er ein Nicken an. Anscheinend hat der Gute nach mir gesucht. Lena beugt sich neben
unsere Bildschirme und fragt besorgt: »Sag mal, geht es dir gut, Lucy, du bist ganz
grün um die Nase. Wo warst du denn so lange?«
»Mir ist
ein bisschen schlecht, ich war auf der Toilette.«
»Eine Dreiviertelstunde?«
»War es
echt so lang?«
Sie wirft
einen Blick auf den Bildschirm und nickt. »Ja, doch.«
Ich seufze
und wende mich erneut der Horrorliste zu. Mark Friskeels Namen werde ich wohl nie
vergessen. Den überspringe ich nächstes Mal einfach, sollte ich je wieder die spezielle
Spezialliste auf den Schreibtisch bekommen. Ich wähle die nächste Nummer und lasse
es lange klingeln, obwohl ich natürlich relativ schnell einsehe, dass diese Kundin
offensichtlich nicht zu erreichen ist.
»Was ist
denn da los?«, höre ich Lenas Stimme. Sie erhebt sich halb aus dem Bürostuhl, um
über die Reihen hinweg zum Fenster zu schauen. Draußen scheint ein ziemlicher Tumult
zu herrschen. Jetzt höre ich die Sirenen eines Kranken- oder Polizeiwagens. Vom
Fenster aus wird die Meldung schnell weitergeleitet: »Da ist was passiert!«
»Was denn?«,
fragt meine Kollegin Sabine, die nicht das Glück hat, so dicht am Fenster zu sitzen.
»Weiß nicht.
Anscheinend zwischen unserem Gebäude und der Kirche. Ich sehe einen Krankenwagen
… Und jetzt kommt die Polizei!«
Uns hält
nichts mehr auf den Stühlen, auch nicht ein drohend Handzeichen gebender Dürri,
der sich seinerseits in einer sehr seltsam anmutenden Gangart seitwärts zu den Logenplätzen
vorschiebt. Bald drängen alle an die Fenster, um da draußen etwas zu erkennen. Da
sie sich nicht öffnen lassen, können wir nicht sehen, was sich unten abspielt. Kurz
kommt mir der Gedanke, dass die sicher nicht die Rilloreste
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