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Beifang

Titel: Beifang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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wollen
Gennadij doch nicht sämtliche Illusionen über das Pflichtbewusstsein deutscher Beamter rauben.«
    Ruzkow lachte. »Soll ich mich so lange an die Bar setzen?«
    Steinbronner schüttelte den Kopf. »Ich bitte Sie! Das Gespräch, das wir hier führen, sollte ohnehin theoretischer Natur sein, eine Fachsimpelei, genau das: Zu unserer Unterhaltung haben wir uns ein Problem ausgedacht und bereden nun, wie es sich wohl lösen ließe.«
    »Eine Fachsimpelei!«, sagte Elaine. »Reizend. Etwas aus dem Repetitorium fürs erste Staatsexamen vielleicht? Warum erzählen wir uns nicht gleich Märchen?«
    »Ja«, rief Ruzkow, »ich liebe Märchen. Vielleicht das von Rotkäppchen und dem Wolf?«
    »Na gut«, sagte Steinbronner, »nehmen wir... nehmen wir etwas aus ›Tausendundeine Nacht‹...« Er trank einen Schluck, tupfte sich den Mund mit der Serviette ab und begann.
    »Es war einmal ein Kalif, den man auf dem Basar und hinter vorgehaltener Hand nur das Kleine Plappermaul nannte, weil er zwar hurtig reden konnte, aber längst nicht so großartig, wie es einer seiner Vorgänger getan hatte. Seine Untertanen liebten den Kalifen, das heißt, die einen liebten ihn sehr und die anderen noch viel mehr, und sein Wesir hatte ein genaues Auge darauf, vor allem auch, um herauszufinden, wer davon die mehreren waren. Eines Tages, oder besser: eines Nachts nun ging einer der Scheichs, der dem Kalifen besonders treu ergeben war, zu den schönen Mädchen, wurde aber dabei gestört, denn der Kalif ließ ihn mitten in der Nacht zu sich rufen. Doch dies ist eine andere Geschichte.
    Am anderen Morgen jedoch war das schöne Mädchen tot, und der Wesir - der die Aufsicht über die Nachtwächter und Gerichtsbüttel führte - schickte einen seiner Büttel und ließ sich alles aufschreiben, was mit dem Mädchen geschehen war und wer es besucht hatte. Der Büttel« - Steinbronner deutete eine leichte Verbeugung an - »fand alsbald heraus, dass nicht der Scheich, sondern ein Mann aus der Palastgarde das Mädchen getötet hatte. Aus Eifersucht hatte er es getan. Und der Büttel ging
zum Wesir und berichtete ihm, was er herausgefunden hatte, und fragte ihn, was er davon dem Kadi weitersagen solle.
    Der Wesir versank in Nachdenken. Berichte ihm, sagte er schließlich, dass der Mann aus der Palastgarde vom Alkohol getrunken hat und deshalb zehn Peitschenhiebe bekommen soll.
    ›Und mehr nicht?‹, wollte der Büttel wissen. Aber der Wesir sagte kein Wort mehr.« Steinbronner trank noch einen Schluck und verschränkte die Arme vor der Brust.
    »Märchenstunde schon vorbei?«, fragte Elaine. »Ich zögere etwas mit dem Applaus. Die Pointe ist mir nicht so ganz klar.«
    »Kann es sein, Erwin«, fragte Ruzkow, »dass der Wesir vielleicht selbst Kalif werden will?« Er beugte sich zu Elaine. »Wer Kalif werden will, für den ist es besser zu wissen, welcher Scheich zu den schönen Mädchen geht, als den Scheich deshalb abzusetzen.«
    Steinbronner nickte anerkennend.
    »Aber dann«, fuhr Ruzkow fort, »muss der Wesir etwas anbieten, damit der Kadi keine dummen Fragen stellt.«
    Wieder nickte Steinbronner, richtete dann aber seinen Blick auf Elaine. »Könnten Sie sich vorstellen, dass der Mordvorwurf fallen gelassen und die Anklage nur mehr wegen Körperverletzung mit Todesfolge erhoben wird? Gleichzeitig könnte der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt werden.«
    »Aber vom Scheich darf keine Rede sein, nicht wahr?«, fragte Elaine.
    Steinbronner nickte.
    Elaine sah ihn an, und in ihren Augen lag ein merkwürdiges Funkeln. »Das Problem ist nur - der Mann aus der Palastgarde sagt, er war es nicht.«
     
     
     
    Veesendonk schwieg. Noch immer saß er zurückgelehnt, und noch immer lagen die Hände auf dem Tisch, als müssten sie jederzeit bereit sein, ein Schriftstück aufzuschlagen oder eine kurze Anmerkung zu notieren. Unverändert auch seine Augen: wachsam, ruhig, auf Berndorf gerichtet.

    »Wie käme ich dazu!«, sagte er schließlich, weniger fragend, vielmehr fast zornig.
    »Wollten Sie nicht wissen«, fragte Berndorf zurück, »warum ich heute Abend hierhergekommen bin? Darum: dass Sie mir von Vren erzählen.«
    Plötzlich ging eine Veränderung in Veesendonk vor. Er beugte sich über den Tisch, stützte den Kopf in beide Hände und rieb sich mit den Fingerspitzen die Augen. »Sie entschuldigen - aber ich hatte einen langen Tag«, sagte er dann, »und das vertrage ich nicht mehr so gut wie früher... Aber Sie hatten nach Vren gefragt... Als junger

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