Beim ersten Om wird alles anders
zumindest in meinem Fall eher andersherum: Das tagtägliche, scheinbar endlose Gesinge in den Sonnenuntergang - und im Sommer
auf Korfu dauert es schon mal, bis die Sonne endlich hinter den Bergen verschwindet - zerrt mit der Zeit an meinen Nerven, und ich muss streng darauf achten, dass meine Emotionen nicht ab und zu eine negative Richtung einschlagen. Mehr als einmal ertappe ich mich bei dem Gedanken, Joes Perlenkette unbemerkt um ein paar ihrer 108 Teile und damit den Gesang um ein paar wertvolle Minuten zu kürzen. Aus Angst vor Ausschluss aus der Gruppe traue ich mich aber nicht.
Damit wir verstehen, was Alexandros meint, folgt gleich die erste Kirtan-Stunde. Dazu begibt sich Joe an das yogatypische kleine transportable Blasebalgharmonium. Es wirkt sehr indisch, stammt aber aus der englischen Kolonialzeit in Indien und ist das Zeichen reisender Yogis, da es von den Abmessungen her noch knapp ins Handgepäck passt. Mit einer sehr schönen Stimme singt Joe einen Mantravers alleine vor und wiederholt den Satz dann zusammen mit der Gitarristin Harvest und den Yoga-Schülern 108-mal, immer wieder leicht modifiziert in Tempo und Melodie. Gegen Ende der Wiederholungen greift Alexandros ein und schlägt immer schneller auf seinen Sitzhocker, der auch als Trommel fungiert. Dazu kann wer will kleine Glöckchen schwingen, was insgesamt der Aufführung einen sehr bizarren Anstrich verleiht, vor allem weil nicht wenige der Teilnehmerinnen viel Spaß an dieser Betätigung finden und sich in eine Art kontrollierte Trance zu begeben scheinen. Zumindest sieht das auf einigen Fotos so aus. Eines davon habe ich an meine Eltern geschickt, die sich daraufhin ernsthaft Sorgen um meinen Geisteszustand machten.
Sorgen um mich machen sich auch die anderen Teilnehmer, als sie merken, dass ich nicht mitsinge und mit einem Gesichtsausdruck dasitze, als würde ich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels
beiwohnen. Als ich aber behaupte, dass ich aus religiösen Gründen nie singe, sind sie beruhigt.Yogis und solche, die es werden wollen, dürfen skurrile Angewohnheiten haben.
Endlich geht die Sonne unter und die Kirtan-Stunde zu Ende. Wir begeben uns in den Speisesaal und halten uns zu meiner Überraschung kollektiv an den Händen und singen ein Om. Dann erst ist das Buffet freigegeben. Das Essen ist sehr abwechslungsreich, kein Wunder, sonst muss ich immer unter den im Idealfall zwei oder drei vegetarischen Speisen einer „normalen“Speisekarte oder den Beilagen auswählen, hier gibt es erfreulicherweise nur vegetarische Gerichte. Wir Teilnehmer kommen völlig zwanglos ins Gespräch, Yogis und Yoginis sind nette und gesellige Menschen. Aber irgendwann reicht es mir mit Gesellschaft. Ich gehe in mein kleines Appartement und hole mir ein Buch. Eine Seefahrtsgeschichte um den legendären englischen Kapitän und Weltumsegler des 18. Jahrhunderts James Cook, erzählt aus der Perspektive von dessen Expeditionszeichner, einem Schweizer. Ich werde nie die Lektüreerfahrung dieser Tage vergessen, wie ich unter einem traumhaften Sternenhimmel am Rande der Terrasse unter einer schwach leuchtenden Laterne sitze und lese, wie Cook von Hawaii bis zur Antarktis segelte. So sitze ich bis gegen zwei Uhr früh, die typische Zeit zum Schlafengehen für die Retreat-Teilnehmer, wie sich später zeigen wird. Die Kombination aus anstrengender Yoga-Praxis, Hitze und Wind lässt die meisten von uns erst spät ins Bett finden.
Der nächste Tag beginnt mit einer Art Meditation. Um die Anfänger nicht zu verschrecken, nennt Alexandros sie
„Sitting Still Practice“. Sie dauert auch nur eine halbe Stunde, während der wir die Augen schließen und uns nicht bewegen sollen. Nach anfänglicher Nervosität klappt das recht gut, allerdings schaffe ich es nicht, an nichts zu denken. Im Gegenteil gefällt mir die Gelegenheit, einmal in Ruhe nachdenken zu können. Als die Meditationszeit um ist und Alexandros uns wieder ins normale Dasein zurückholt, ist mir das fast zu früh.
Dann beginnen wir die tägliche mindestens dreistündige Yoga-Praxis. Alexandros gibt uns Übungen auf, die ich zum Teil schon kenne, zum Teil zum ersten Mal sehe und praktizieren soll. Einiges funktioniert ganz gut, auch wenn ich mich manchmal ziemlich ungeschickt anstelle. Rückwärtsbeugen, Spagat, Unterarmhandstand sind mir allerdings neu, und nicht alles klappt. Zum Glück sind aber Yoga-Schüler dabei, denen es ähnlich geht. Anfangs ist die Hitze brutal. Ich
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