Beim ersten Om wird alles anders
zu zerschmettern. Am nächsten Tag verlege ich meine Übungen von
der Wohnung wieder ins Yoga-Studio, um meinen Bewegungsdrang dort auszutoben.
Aufgrund meines Gesundheitszustands begebe ich mich ohne große Erwartungen in den Fortgeschrittenenkurs. Ich sehe dort eine sehr attraktive, mir unbekannte Yoga-Frau sitzen. Da der Raum schon fast voll ist, nur neben ihr scheint noch ein Platz frei zu sein, bitte ich sie, eine mattengroße Stelle neben ihr für mich zu reservieren, bis ich mich umgezogen habe. Sie antwortet wenig begeistert: „Mal sehen.“
Ich habe heute meine rosa Matte vergessen und gehe rasch um die Ecke, um mir eine Leihmatte zu holen und diese vor der Umziehaktion noch schnell neben die Dame zu legen, sicher ist sicher. Kaum 20 Sekunden später bin ich wieder zurück und sehe, dass es doch tatsächlich in der kurzen Zeit eine andere Matte neben die der Mitturnerin geschafft hat, genau dorthin, wo ich meine auslegen wollte. Als ich frage, was das bedeute, antwortet die Yogini mit treuherzigem Augenaufschlag: „Sorry. Ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte. Ich habe mich nur kurz umgedreht, schon war der Platz besetzt. Aber da hinten, an der gegenüberliegenden Wand ist noch was frei.“
Wie befohlen quetsche ich mich direkt neben die Wand und beschließe, in diesem Leben nie mehr mit dieser Yogini zu sprechen.
Als die Yoga-Stunde losgeht, wendet sich mein Glück. Heute ist offenbar als Schwerpunktthema Handstand angesagt. Genau genommen Unterarmhandstand. Dabei legt man die Unterarme flach auf die Matte, winkelt die Oberarme rechtwinklig an und drückt dann den Rest des
Körpers in eine möglichst senkrechte Haltung. Den kann ich ganz gut, und tatsächlich, auch heute, trotz krankheitsbedingterYoga-Pause, komme ich hoch. Nach ein paar Sekunden begebe ich mich wieder nach unten und denke, wir wechseln danach zu einer anderen Übung.
Stattdessen sagt die Yoga-Lehrerin Rita, mit der man übrigens prima über Fußball reden kann und die auch sonst wegen ihrer ruhigen und konzentrierten Art und ihrer immer guten Musikauswahl meine liebste Lieblingslehrerin geworden ist, dass wir jetzt ja mal den Skorpion üben könnten. Keine Ahnung, was das sein soll. Rita erklärt uns die Übung. Dazu sucht sie sich eine Yogini als Demonstrationsobjekt aus. Unter Ritas Anleitung begibt sich diese in einen perfekten Unterarmstand. Als der stabil ist, bittet Rita sie, den Oberkörper zwischen den Armen nach vorne hindurchzuschieben und die Beine nach vorne überhängen zu lassen. Rita greift die Beine, und das Ganze sieht plötzlich aus wie beim chinesischen Staatszirkus.
DAS will ich auch können, denke ich, und als hätte Rita das geahnt, sagt sie: „Es gibt hier einen, der das vielleicht sogar schafft, nachdem er sich aus dem Kopfstand in den Unterarmstand hochgehebelt hat. Rainer.“Sie kommt zu mir, und alle Blicke folgen ihr. Ich falte die Hände am Hinterkopf und ziehe mich in den Kopfstand. Dann nehme ich die gefalteten Hände vom Kopf und lege sie links und rechts daneben auf die Matte. Schließlich stemme ich mich in den Unterarmstand. Rita hält meine Füße von oben, ich bewege meinen Oberkörper an den Armen vorbei nach vorne und schaffe es, die Beine nach vorne hängen zu lassen. Als ich die Übung beende und glücklich wieder unten ankomme, gibt es doch tatsächlich Applaus. Ich habe noch nie für etwas Beifall bekommen, nicht einmal, als ich im Schülertheater den siebten Soldaten von
links im Zerbrochenen Krug spielen musste und es schaffte, den mühsam eingeübten Gleichschritt der ganzen kleinen Schülerarmee durcheinanderzubringen. Zum ersten Mal also Applaus für mich in einer Yoga-Klasse. Es ist mir zwar peinlich, in meinem reifen Alter für eine Leibesübung gelobt zu werden, aber nur ein bisschen, denn ein klein wenig stolz bin ich schon, an meinem ersten Tag nach der Pause gleich eine ganz besondere Übung, von der ich zuvor gar nicht wusste, dass sie existiert, geschafft zu haben.
Danach üben wir Vorwärtsbeugen. Dazu gehört auch eine Übung, bei der man auf der Matte sitzt, ein Bein anhebt und seitlich an den Oberkörper zieht, bis man es schließlich wie ein kleines Baby im Arm wiegt und den Zeh in den Mund nehmen könnte. Das sieht ziemlich lächerlich aus, selbst wenn der Zeh kurz vor dem Mund bleiben darf, und ist nicht leicht zu schaffen. Das ist aber noch nicht alles, was Rita mit uns vorhat. Sie sagt, dass wir jetzt versuchen sollen, den Fuß hinter den Kopf zu bringen.
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