Beim ersten Sonnenstrahl (Teil 2) (German Edition)
ihm vor, aus dem Fenster zu springen und im Wald versteckt den Tag zu überdauern, falls sie es nicht rechtzeitig bis zum Morgengrauen nach Amiens schafften, aber diese Vorstellung gefiel David überhaupt nicht. Zahar schutzlos und allein im Nirgendwo – das würde er niemals zulassen!
»Mir fällt schon was ein, und wenn ich behaupten muss, ich bin mit einer Steinskulptur unterwegs, die ich nicht im Gepäckwagen lassen wollte, weil sie zu wertvoll ist.«
Zahar schmunzelte. »Und wie schaffst du mich aus dem Zug?«
»Vielleicht bekomme ich einen einfachen Schwebezauber hin«, murmelte er, verschränkte die Arme und schmollte wegen seiner Hilflosigkeit.
***
»Bitte, bleib, ich hätte keine ruhige Sekunde.« David hielt Zahar zurück. »Außerdem bist du zu schwach. Das Gift … Was, wenn du es nicht bis in ein Versteck schaffst?«
Als ob Zahar ihm zeigen wollte, wie viel Kraft er noch besaß, begann er, im winzigen Abteil hin-und herzutigern. Sie hatten Amiens immer noch nic ht erreicht. Der Zug hatte ein weiteres Mal für eine längere Zeit halten müssen , mitten auf f reier Strecke. »Ich muss los, David. Es wird bereits hell.«
»Nein, bitte!« Er wusste, dass er Zahar nicht würde zurückhalten können, wenn er nicht wollte. »Wenn es so weit ist, musst du die Schwingen anlegen, sonst bekomme ich dich nicht aus der Tür.«
»Ich weiß nicht …« Zahar seufzte. »Es ist ohnehin zu spät, eigentlich hätte ich mich schon verwandeln müssen. Es verzögert sich wieder.« Ihm war sichtlich unwohl bei der Sache.
Je heller es wurde, desto nervöser wurde Zahar. »Ich glaube, jetzt geht es los.« Er atmete tief durch, stellte sich kerzengerade hin und legte die Schwingen eng an.
David stieß die Luft aus, doch die Erleichterung währte nur kurz. Plötzlich krümmte sich Zahar und knurrte.
»Was ist?« David zersprang gleich vor Anspannung! »Ist es das Gift?«
Zahar schüttelte den Kopf. Er konnte nicht sprechen, hatte anscheinend Schmerzen. Er hielt David lediglich die Hände hin.
Erstaunt sah er zu, wie sich die eingezogenen Krallen in menschliche Fingernägel verwandelten.
»Das gibt es nicht«, wisperte er.
»Hörner«, stieß Zahar hervor, worauf David in sein Haar fuhr. Er spürte, wie sich die Stummel zurückzogen.
»Fänge …« Zahar fletschte die Zähne. Auch die Reißzähne verkürzten sich!
»Was passiert mit mir?« Seine Stimme klang schwach, aber nicht mehr so dunkel wie sonst; er zitterte heftig. Erneut krümmte er sich auf der Sitzbank zusammen. Seine Schwingen zuckten, spreizten sich auf und … zogen sich in den Körper zurück. Sie verschwanden ebenfalls!
»Zahar!« Auf der Bank lag ein normaler junger Mann. Nichts mehr deutete auf den Gargoyle hin. Keine spitzen Ohr en, er besaß ein bisschen weniger Muskeln, sein Gesicht wirkte weicher. »Mein Gott!« David sank auf die Knie und fuhr ihm über die Wangen.
»Wo sind meine Schwingen? «, fragte Z ahar.
Mit bebenden Fingern öffnete David das Hemd und befühlte die glatte Haut. Kein Höcker, keine Narben waren an den Stellen, wo die Schwingen gesessen hatten, zu sehen. Er spürte Schulterblätter wie bei einem Menschen. »Sie sind weg. Einfach weg«, flüsterte er.
Zahar lächelte matt. »Hast du den Fluch von mir genommen?« Tränen liefen über seine Wangen.
David musste sich setzen. Er hockte sich auf die Bank und Zahar legte den Kopf auf seinen Schoß. Sanft fuhr David durch das verschwitzte Haar. »Ich weiß es nicht.«
Zahar grinste. »Jetzt bin ich wie du. Kein Monster mehr.«
»Du warst niemals ein Monster, das weißt du doch«, wisperte Dav id und streichelte das wunderschöne Gesicht.
Zahar schaute zu ihm auf. »Gefalle ich dir als Mensch besser?«
»Du hast mir auch als Gargoyle gefallen.« Außerdem mochte er Zahar nicht nur wegen seines Aussehens! Er war ihm ein guter Freund und treuer Gefährte geworden. »Wieso bist du ein Mensch? Ist das so, wenn der Fluch abfällt? Und ist das nun für immer?«
»Weiß nicht.« Stöhnend schloss Zahar die Augen und zog die Beine an. »Das Gift … Es breitet sich rasant aus.«
»Oh nein!« Jetzt erst wurde David bewusst, was die Verwandlung bedeutete. Als Mensch war Zahar nicht so stark und viel anfällig er für das Gift. »Wie kann ich dir helfen?«
»Ich weiß es nicht. Mein Körper fühlt sich anders an. Kraftlos.«
Verletzbarer … David schwante Übles. Er musste Zahar helfen! Vielleicht zeigte Grannys Heilpaste Wirkung, wenn Zahar von ihr kostete? Ein Versuch
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