Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Beim Leben meiner Schwester

Titel: Beim Leben meiner Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
Vom Netzwerk:
andern Qualen mindern.
    WILLIAM SHAKESPEARE,
    â€ºRomeo und Julia‹

CAMPBELL
    Es regnet.
    Als ich ins Wohnzimmer komme, hat Judge die Nase gegen die Fensterscheibe gepreßt, die eine ganze Wand meiner Wohnung einnimmt. Er winselt die Tropfen an, die an ihm vorbeisausen. »An die kommst du nicht ran«, sage ich und streichle ihm über den Kopf. »Du kannst nicht auf die andere Seite.«
    Ich setze mich auf den Teppich neben ihn, obwohl ich weiß, daß ich aufstehen und mich anziehen und zum Gericht fahren müßte. Obwohl ich weiß, daß ich mein Schlußplädoyer noch einmal durchgehen und nicht tatenlos hier rumsitzen sollte. Aber dieses Wetter hat etwas Faszinierendes an sich. Früher saß ich oft auf dem Beifahrersitz im Jaguar meines Vaters und sah den Regentropfen zu, wie sie ihre Kamikazemissionen vom Rand der Windschutzscheibe runter zu den Wischerblättern vollführten. Er stellte die Wischer gerne auf Intervallschaltung, so daß die Welt auf meiner Seite der Scheibe immer eine Weile verwaschen blieb. Das machte mich wahnsinnig. Wenn du selbst fährst , sagte mein Vater immer, wenn ich mich beschwerte, kannst du machen, was du willst .
    Â»Willst du zuerst unter die Dusche?«
    Julia steht in der offenen Schlafzimmertür und trägt eins von meinen T-Shirts. Es reicht ihr bis zur Mitte der Oberschenkel. Sie rollt die Zehen in den Teppich.
    Â»Geh du nur«, sage ich. »Ich kann ja auch einfach raus auf den Balkon gehen.«
    Sie bemerkt, daß es regnet. »Furchtbares Wetter, nicht?«
    Â»So einen Tag kann man ruhig im Gericht verbringen«, antworte ich, aber mit wenig Überzeugung. Ich bin nicht wild darauf, heute Richter DeSalvos Entscheidung zu hören, und zum ersten Mal hat das nichts damit zu tun, daß ich Angst habe, den Fall zu verlieren. Ich habe mein Möglichstes getan, wenn man bedenkt, was Anna im Zeugenstand zugegeben hat. Und ich hoffe wirklich, daß ich ihr ein wenig das schlechte Gewissen nehmen konnte wegen dem, was sie getan hat. Auf jeden Fall wirkt sie nicht mehr wie ein unentschlossenes Kind. Und auch nicht mehr selbstsüchtig. Sie wirkt einfach wie ein ganz normaler Mensch, der herausfinden will, wer er ist und was er daraus machen soll.
    Die Wahrheit ist, daß Anna recht hatte mit dem, was sie einmal zu mir gesagt hat: Keiner wird gewinnen. Wir werden unsere Schlußplädoyers halten, und der Richter wird seine Entscheidung treffen, aber auch dann wird es nicht vorbei sein.
    Anstatt zurück nach hinten ins Bad zu gehen, kommt Julia näher. Sie setzt sich im Schneidersitz neben mich und legt die Fingerspitzen an die Scheibe. »Campbell«, sagt sie, »ich muß dir was sagen und ich weiß nicht, wie.«
    In mir herrscht plötzlich angespannte Stille. »Schnell«, bitte ich.
    Â»Ich mag deine Wohnung nicht.«
    Ich folge ihrem Blick von dem grauen Teppich zur schwarzen Couch zu der verspiegelten Wand und den lackierten Bücherregalen. Die Wohnung ist voller scharfer Kanten und teurer Kunst. Sie hat den modernsten elektronischen Schnickschnack. Sie ist eine Traumwohnung, aber kein Zuhause.
    Â»Weißt du was«, sage ich, »ich mag sie auch nicht.«
    JESSE
    Es regnet.
    Ich trete nach draußen und gehe los. Ich marschiere die Straße hinunter und an der Grundschule vorbei und über zwei Kreuzungen hinweg. Innerhalb von fünf Minuten bin ich bis auf die Knochen durchnäßt. Dann fange ich an zu laufen. Ich renne so schnell, daß mir die Lunge weh tut und meine Beine brennen, und als ich schließlich nicht einen Meter mehr weiter kann, werfe ich mich mitten auf dem Fußballplatz der High School flach auf den Rücken.
    Ich habe hier mal bei so einem Gewitter wie jetzt LSD genommen. Ich habe mich hingelegt und zugesehen, wie der Himmel herabstürzte. Ich stellte mir vor, wie die Regentropfen meine Haut wegätzten. Ich wartete auf den einen Blitz, der mir durchs Herz zucken würde, damit ich mich zum ersten Mal in meinem ganzen jämmerlichen Leben hundertprozentig lebendig fühlen könnte.
    Der Blitz hatte seine Chance, und er hat sie an dem Tag nicht genutzt. Auch heute morgen kommt er nicht.
    Also stehe ich auf, streiche mir die Haare aus den Augen und versuche, mir etwas Besseres einfallen zu lassen.
    ANNA
    Es regnet.
    Einer von diesen heftigen Regengüssen, bei denen du meinst, die Dusche liefe noch. Die Art von Regen, bei dem du an Dämme und

Weitere Kostenlose Bücher