Beinah auf den ersten Blick: Roman (German Edition)
rächen, ging sie einen früheren Stapel Fotos durch, bis sie eines von ihm gefunden hatte, wie er die Kostümparade beim Sommerfest anführte. Er war ungefähr 10 oder 11 und trug dunkelbraune Strumpfhosen, einen braunen Rollkragenpulli und einen Hut, der mit Zweigen und Blättern geschmückt war.
Cleo zeigte auf seine Beine. »Strumpfhosen.«
»Ich war ein Baum .«
»Mit einer Neigung zum Transvestitentum.«
»Heutzutage versuche ich, das unter Kontrolle zu halten.«
»Du hast lächerlich ausgesehen.«
»Aber ich habe den dritten Platz gemacht. Ich habe einen Gutschein für ein Buch gewonnen.« Pause. »Und ich durfte die Strumpfhosen behalten.«
Sie stöhnte laut über das nächste Foto, auf dem sie Zuckerwatte aß. Das rosa Zeugs klebte ihr um den Mund und Teile davon sogar im Haar. »Schau nur, wie ich aussehe.«
»Ach, mit dem Alter ist es bei dir besser geworden.« Johnny deutete ein Lächeln an. »Eigentlich hast du dich ziemlich gut herausgemacht.«
»Halt die Klappe.« Cleo wand sich; aus irgendeinem Grund lag seine Hand immer noch auf ihrem Rücken.
»Du hältst Komplimente nicht so gut aus, oder? Aber es stimmt.«
Wo sie sich bis jetzt so tapfer gehalten hatte. Hoffentlich merkte er nicht, wie schnell ihr Herz schlug. Beiläufig meinte sie: »Vielleicht hängt es davon ab, wer sie verteilt.«
»Du bist eine wunderschöne Frau. Das ist ein Fakt. Glaub mir.« Seine grünen Augen funkelten amüsiert. »Ich bin Künstler.«
Ha, eher ein hochstapelnder Schlawiner! Aber noch während sie das dachte, reagierte ihr Körper auf seine Stimme, seine körperliche Nähe, die warme Hand auf ihrem Rücken. Und sie entzog sich ihm nicht.
Sie bewegte sich überhaupt nicht.
»Hör mal, es ist mir ernst.« Johnnys Stimme wurde weich. »Du hast ja keine Ahnung, wie attraktiv du bist.«
Sie hätte jetzt nichts sagen können, und wenn ihr Leben davon abhinge.
»Ganz ehrlich.« Er nickte. »Mir ist das gerade eben erst klar geworden, aber ich glaube, ich weiß auch, warum.«
»Warum?« Es war ein heiseres Krächzen.
»Okay, lass mich dich etwas fragen. Was siehst du, wenn du in den Spiegel schaust?«
Ein fast unmerkliches Schulterzucken. »Mich.«
»Das glaube ich nicht. Ich glaube, du siehst deine Tante Jean.«
Es war wie ein Schlag in die Magengrube. Cleos Augen brannten. Er hatte sie völlig unvorbereitet erwischt. Sie hatte diese Gefühle so lange in sich verschlossen, und kein anderer war je darauf gekommen. Doch aufgrund ihrer Reaktion von vorhin hatte Johnny es intuitiv erraten. Er wusste, dass sie jedes Mal, wenn sie ihr Spiegelbild betrachtete, sich von ganzem Herzen wünschte, sie hätte nicht Tante Jeans Augenbrauen, Tante Jeans Kinn, Tante Jeans Sommersprossen …
Das Einzige, was sie hatte, Tante Jean aber nicht, war der tropfenförmige Schönheitsfleck direkt unter ihrem rechten Auge.
Und die Fähigkeit – Gott sei Dank – nein zu sagen, wenn ihr jemand ›nur ein Glas‹ aufdrängen wollte.
»Du musst dir keine Sorgen machen.« Johnny schüttelte den Kopf »Du bist überhaupt nicht wie sie.«
Er hatte recht. Es war an der Zeit, diese Angst hinter sich zu lassen. Cleo entspannte sich. »Ich weiß.«
Er schwieg kurz, dann runzelte er die Stirn und meinte bedächtig: »Weißt du, ich habe dieses schreckliche Gefühl … o Mist, habe ich dich mit ihr aufgezogen , als wir Kinder waren?«
Dann erinnerte er sich also doch. Nach all diesen Jahren. Cleo lächelte schief. »Möglich.«
»O Gott.«
»Es war nur dummes Zeugs in der Schule. Jeder wird mit irgendwas aufgezogen. Wenn es dich tröstet, du warst nicht der Einzige.«
Johnny atmete aus. Er wirkte sehr ernst. »Kein Wunder, dass du mich hasst. Es tut mir leid.«
Sie nickte. »Ich weiß.«
» Wirklich leid.«
»Ist schon gut.« Cleo lächelte. »Kein Grund, um Gnade zu winseln.«
»Ich finde, ich sollte.«
»Na schön, dann nur zu.«
»Es tut mir leid. Ich war ein Idiot. Es tut mir leid, es tut mir leid .«
»Jetzt reicht es. Du kannst aufhören.« Bildete sie sich das nur ein, oder war er einen Millimeter näher an sie herangerückt?
»Womit aufhören?«
»Dich zu entschuldigen.«
»Oh, natürlich. Sorry.«
Jetzt nahm er sie definitiv auf den Arm. Wenn er sich in diesem Moment vorbeugen und sie küssen würde, dann würde Cleo den Kuss erwidern. Letztes Mal, im Auto, war es nicht passiert. Aber jetzt standen sie vor dem nächsten Schritt. Jeder Zentimeter ihrer Haut prickelte vor Adrenalin, sie wollte, dass es hier und
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