Beinah auf den ersten Blick: Roman (German Edition)
länger … ich möchte, dass meine Frau davon erfährt und mich trotzdem liebt. Mein Traum wäre, dass wir beide zusammen einkaufen gehen.« Eric klang sehnsüchtig. »Aber was ist, wenn sie die Vorstellung abstoßend findet? Was, wenn sie die Scheidung einreicht?«
Abbie legte den Badeschwamm zur Seite und setzte sich auf. Zwei Dinge schossen ihr durch den Kopf. Zum einen, so unwahrscheinlich es auch schien, was, wenn Tom tatsächlich ein Transvestit war? Als sie vor zwei Jahren zu einer schicken Kostümparty eingeladen worden waren, da war er als Drag Queen gegangen! Ihr war nie der Gedanke gekommen, dass er das vielleicht getan hatte, weil er sich danach sehnte, in der Öffentlichkeit eine lange blonde Perücke, Make-up und ein türkisfarbenes Satinabendkleid zu tragen. Auch wenn er ausgesehen hatte wie eine der hässlichen Stiefschwestern von Aschenputtel, und seine Beinhaare durch die Netzstrümpfe gelugt hatten.
Zweitens, bis jetzt war ihr nie der Gedanke gekommen, nach Hinweisen zu suchen. Das zeigte nur, wie absolut … ja, ahnungslos sie war. Wer weiß, was sie fand, wenn sie das Haus durchsuchte?
Worauf wartete sie noch? Alles wäre besser als diese schrecklichen Zweifel. Abbie hievte sich aus der Wanne, trocknete sich ab und schlüpfte in ihren Bademantel. Mit tropfenden Haaren rannte sie in das aufgeräumte, hellgrüne Schlafzimmer und krempelte die Ärmel hoch. Hier zuerst. Dann im Büro, wo Tom all seine Akten aufbewahrte. Und wenn sie nirgends etwas fand, dann die Leiter hinauf auf die Bühne mit den Spinnen und dem Staub.
Also schön, wenn sie Tom wäre und etwas Belastendes verstecken wollte, wo würde sie das tun?
Vierzig Minuten später hatte sie es gefunden. Gerade, als sie aufgeben wollte, fand sie es doch noch im Schlafzimmer. Einfallsloserweise ausgerechnet in Toms Sockenschublade. Beinahe hätte sie an dieser so offensichtlichen Stelle gar nicht nachgeschaut. Aber in dem Moment, als sie das Rascheln von Papier hörte und sich ihre Finger um den gefalteten Briefumschlag schlossen, wusste sie, dass sie genau danach gesucht hatte.
Die Schwindelgefühle kamen in Wellen. Zitternd schob Abbie die Schublade zu und ließ sich auf den Rand des Bettes sinken. O ja, das war es, gar kein Zweifel. Ein blauer Umschlag, Sondermarke, Poststempel von vor elf Tagen. Toms Name und Adresse auf der Vorderseite, in weiblicher Handschrift. Wenn dieser Brief von seiner Geliebten stammte, war sie damit ein Risiko eingegangen. Außer, es wäre ihr genau darum gegangen und sie wollte, dass ihr Geheimnis ans Licht kam.
Abbie schloss die Augen. Sobald man etwas wusste, konnte man es nie wieder nicht wissen. Ihr Leben würde sich für immer verändern.
Na gut, los geht’s.
Sie zog den Bogen Briefpapier aus dem Umschlag. Als sie ihn entfaltete, fiel ein Foto zu Boden. Ihre nackten Zehen krümmten sich vor Furcht. Abbie ließ das Foto liegen und fing an zu lesen.
Lieber Tom,
also gut, du hast dich nicht wieder gemeldet, obwohl du es versprochen hattest, darum schreibe ich erneut. Hoffst du, wenn du mich ignorierst, werde ich aus deinem Leben verschwinden? Ich versichere dir, das wird nicht passieren! Mein ganzes Leben lang habe ich mich gefragt, wer mein Vater ist, und jetzt, wo ich dich gefunden habe, werde ich dich nicht aufgeben – unter gar keinen Umständen. Ich bin übrigens froh, dass du es nicht in Frage stellst oder sagst, du wärst nicht mein Vater, aber Mum sagt sowieso, dass ich dir sehr ähnlich sehe. Jedenfalls habe ich ein Foto von mir vom letzten Jahr beigelegt (während meiner Phase mit den verrückten Hüten!), du kannst also selbst urteilen. Ich bin nicht gerade hässlich, oder?!
Es tut mir wirklich leid, wenn dir das deiner Frau gegenüber peinlich ist, aber dafür kann ich ja nichts, oder? Bitte rufe mich bald an, damit wir ein Treffen ausmachen können. Du hast keine Ahnung, wie gerne ich dich sehen möchte! (Mum lässt dich grüßen, und ihr tut es auch leid, aber du weißt ja schon, wie sie ist!)
In Liebe,
Deine Tochter, die dich unbedingt gern kennenlernen möchte,
Georgia xxxxxx
Abbie beugte sich vor, nahm das Foto zur Hand und drehte es um. Weiterer Beweise bedurfte es nicht. Toms lachende, hellblaue Augen sahen sie aus dem herzförmigen Gesicht eines Teenagers an. Ein strahlendes Mädchen, mit Toms Wangenknochen und dem unverkennbaren Umriss seines Mundes. Unter ihrer lilafarbenen Ballonmütze lugten helle Haare hervor. Sie trug große Kreolenohrringe und eine weiße
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