Beinah auf den ersten Blick: Roman (German Edition)
Eigenschaften besitzen, aber er war auch ein …
»Fuchs«, rief Johnny, als ein Blitz aus rötlich-braunem Fell quer über die Straße schoss und gleich darauf im Gebüsch verschwand.
Was passte, weil er und der Fuchs so viele Eigenschaften gemeinsam hatten. Sie waren beide klug und selbstsicher, räuberisch und gerissen. Sie wussten, was sie wollten, und sie hörten erst auf, wenn sie es hatten. Mit ihrer Wer-wagt-gewinnt-Einstellung strahlten sie eine Art hypnotische Faszination auf andere, weniger entschlossene Typen aus.
Und für gewöhnlich hinterließen beide eine Spur kopfloser Hühner in ihrem Kielwasser.
Cleo konzentrierte sich auf die Straße vor ihnen, dunkel und regennass. Wenn sie eine Sache gelernt hatte, während sie erwachsen wurde, dann, dass man sich nicht auf die menschliche Version eines Fuchses einlassen durfte. Man erlaubte sich einfach nicht, in diese Situation zu geraten. Denn wenn man das tat, konnte es einen zerstören.
Seit sie ein Kleinkind gewesen war, hatte sie die jüngere Schwester ihrer Mutter verehrt. Tante Jean ähnelte mit ihren quirligen, braunen Augen sehr der jungen Audrey Hepburn und hatte sie mit Liebe und Zuneigung überschüttet. Sie war immer lustig und unbekümmert, hatte viel gelacht, eine Prinzessin, die das bestmögliche Leben führte. Cleo hatte geschworen, genau wie sie zu sein, wenn sie erwachsen war.
Sie konnte sich nicht erinnern, wann Tante Jean und Onkel David zusammengekommen waren, aber eine ihrer Lieblingserinnerungen aus ihrer Kindheit war die Hochzeit der beiden. Sie war sechs und durfte Blumenstreumädchen spielen. Es war ein heißer, sonniger Tag, sie trug ein glänzendes, rosa Kleid mit passenden rosa Seidenröschen im Haar, und Abbie hatte sie gescholten, weil sie nach der Trauung auf dem Kirchhof so getan hatte, als sei sie ein Pony, und herumgaloppiert war.
Das Einzige, woran sie sich hinsichtlich dieses Tages noch erinnerte, war, wie sie später während des Empfangs aus der Dorfkirche galoppierte und in einer Seitengasse Onkel David entdeckte, der eine Frau küsste, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Obwohl er die Frau sehr gut zu kennen schien. Jedenfalls gut genug, um an ihrem BH herumzumachen.
Als sie älter wurde, hatte Cleo – ohne dass irgendjemand etwas gesagt hätte – gelernt, dass man sich lieber gleich auf sein Zimmer verzog, wenn man von der Schule nach Hause kam und Tante Jean mit Mum in der Küche saß. Denn Tante Jean war dieser Tage nicht mehr so unbeschwert glücklich. Im Grunde lächelte sie kaum noch. Stattdessen war sie oft durcheinander und sprach endlos in einer Mischung aus Flüstern und codierten Anspielungen über Dinge, die nichts für Kinderohren waren. Dann fing sie an zu weinen, anfangs leise, dann lauter und intensiver, hatte einen ungeheuren Verbrauch an Taschentüchern, und es war ihr egal, dass ihre Nase lief und sie schrecklich aussah. Das waren die Momente, die Cleo am meisten hasste. Auch wenn sie Heißhunger auf Kekse oder eine Limonade hatte, wollte sie auf keinen Fall in die Küche gehen, wenn Tante Jean wieder an einem ihrer Zustände litt. Und das war lange bevor sie anfing, diese kleinen Flaschen mit Medizin mitzubringen, sie aus ihrer Handtasche zu ziehen und den Inhalt in ihre Teetasse zu gießen.
Teacher’s . ›Lehrer‹. Das stand auf der Flasche. Damals, so erinnerte sich Cleo, hatte sie sich oft gefragt, warum ihre Tante, die keine Lehrerin war, so etwas trank.
Neben ihr im Auto sagte Johnny: »Du bist still geworden.«
»Ich denke nur nach.«
»Worüber?«
»Füchse.« Onkel David war ein Fuchs gewesen. Gutaussehend, ständig flirtend, ein echter Lebemann. Damals hatte sie ihn gemocht, weil er lustig war und man mit ihm immer etwas zu lachen hatte. Jetzt, all die Jahre später, war ihr klar, dass er selbstsüchtig und verantwortungslos gehandelt hatte, immer nur an seinem eigenen Vergnügen interessiert. Er machte sich nicht die leisesten Gedanken über den Schmerz, den er anderen mit seinem Verhalten zufügte.
Und, bei Gott, er hatte viel Schmerz zugefügt. Onkel David ging freigiebig mit sich um, eine Affäre folgte auf die andere, und Tante Jean verfiel zusehends. Ihre Trinkerei nahm überhand, und sie entdeckte passende Pillen für sich, warf ungehemmt Tranquilizer und Antidepressiva ein. Tat alles, was ihr half, irgendwie durch ihren Alltag zu kommen. Abgesehen von der offensichtlichen Lösung, nämlich ihren charmanten, aber untreuen Ehemann in die Wüste zu
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