Beinssen, Jan
Jakobsplatz. Ein dicker Mann in Uniform, der hinter einer ebenfalls dicken Panzerglasscheibe saß und sie mit mürrischer Miene dazu aufforderte, ihre Personalausweise auf eine metallene Drehscheibe zu legen.
Sie mussten einige Zeit warten, bis sie von einer weiteren Uniformträgerin abgeholt wurden. Sie erwies sich als ebenso schlecht gelaunt und wortkarg wie ihr Kollege an der Pforte und lieferte sie in einem Büro des Kriminalkommissariats ab: ein zweckdienlich eingerichteter, nüchterner Raum, in dem sie bereits erwartet wurden – von zwei weiteren biestigen Gesichtern.
Das eine gehörte zu einem jungen Mann mit kurzen blonden Haaren, sandfarbenem Anzug und weinroter Krawatte. Das zweite zu einem älteren, kräftigen Herrn mit grau durchsetztem Haar, einem dicht gewachsenen Vollbart und buschigen Augenbrauen, die sich über einem Paar dunkler Augen spannten. Diese Augen waren es, die Sina sofort in ihren Bann zogen. Denn aus ihnen sprach eine professionelle Skepsis, aber auch Wohlwollen und Gutmütigkeit – und vielleicht ein Fünkchen Lethargie, verursacht durch die vielen Dienstjahre, die dieser Mann hinter sich hatte. Im Gegensatz
zu seinem jüngeren Kollegen trug er unter seinem karierten Jackett kein Hemd mit Binder, sondern einen cremefarbenen Rollkragenpullover.
»Diehl ist mein Name«, stellte sich der Ältere nun mit freundlicherem Gesichtsausdruck vor und reichte den Frauen die Hand. »Eduard Diehl. Ich bin der Kripochef und leite die Ermittlungen im Fall Werner Engelhardt.«
Sina schüttelte die große raue Hand, die angenehm warm war. Diehl strahlte etwas Väterliches aus, das ihr Vertrauen einflößte. Als er lächelte und ihnen einen Sitzplatz anbot, drückte seine Mimik eine milde Weisheit aus. »Hol für die Damen bitte einen Kaffee, Harry«, wies er seinen Untergeben an.
Sina ließ sich neben Gabriele nieder, lehnte sich zurück und sah den Kripochef erwartungsvoll an. Ihr Unwohlsein und die Befangenheit, die sie auf dem Weg zum Präsidium begleitet hatten, waren mit einem Mal verschwunden. Die Ruhe und Sicherheit, die Diehl verbreitete, zeigte Wirkung.
Sina wusste, dass sie es mit einem erfahrenen Ermittler zu tun hatte, der diese Wirkung auf seine Mitmenschen vielleicht ganz bewusst einsetzte und ausspielte. Zurückhaltung wäre folglich geboten gewesen. Doch Sina war nahe dran, ihrem Impuls zu folgen und sich diesem wildfremden Menschen zu öffnen und blindlings anzuvertrauen. Für sie wäre es eine Erleichterung, alles loszuwerden, was mit den unschönen Ereignissen der letzten Tage verbunden war, und sich mit dieser Beichte der
ganzen angestaunten Gefühle und Gedanken zu entledigen.
Diehl schien ihren wunden Punkt bereits bemerkt zu haben, denn anstatt zunächst Gabriele anzusprechen, richtete er seine volle Aufmerksamkeit auf Sina: »Es ist schön, dass Sie so schnell zu uns kommen konnten, und Sie brauchen auch keine Angst zu haben. Wir haben lediglich ein paar Fragen, die Sie uns sicher beantworten können.« Seine Stimme war tief, brummig, gleichzeitig aber auch sanft. »Sie haben ja schon gehört: Herr Engelhardt hat an jenem Abend im Autokino zwar tatsächlich einen Herzinfarkt erlitten – ganz so, wie es der Notarzt zutreffend diagnostiziert hatte. Aber bevor der Totenschein ausgestellt wurde, entdeckte man mehr oder weniger durch Zufall eine rot geränderte Einstichstelle an seinem Oberarm. Eine Nachuntersuchung wurde noch in derselben Nacht angeordnet, dann kam der Kriminaldauerdienst und damit wir ins Spiel. Schließlich brachte eine Autopsie des Leichnams Licht ins Dunkel. Herr Engelhardt starb durch die Verabreichung des Nervengifts Botulinumtoxin, das zu starken Muskelkontraktionen und schließlich zum Tod durch Herzstillstand führt.«
»Das ist ja interessant«, zwang Gabriele den Kommissar, auch ihr Beachtung zu schenken. »Aber warum erzählen Sie uns das alles? Wir kannten den Mann ja kaum.«
Diehl sah sie kurz an. »Immerhin waren Sie mit ihm im Kino, oder?«
»Ja, aber meine Freundin hat recht: Engelhardt war für uns ein Fremder. Wir haben uns nur mit ihm getroffen, um mit ihm zu reden«, erklärte Sina.
»Ein Fremder, sagen Sie? Ist es nicht seltsam, sich mit einem Fremden zu später Stunde an einem solch ungewöhnlichen Ort zu verabreden? Um was ging es in Ihrem Gespräch?«
Sina war immer noch nahe dran, dem Kommissar die ganze Geschichte zu erzählen. Doch sie spürte den bohrenden Blick Gabrieles und nahm sich zurück. »Es war etwas
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