Beinssen, Jan
Aber was hatte sie denn erwartet? Sie durfte nicht zu ungeduldig sein.
Di Lorenzo machte weiter damit, den zähen Lern
stoff durchzukauen, kaum dass alle Teilnehmer wieder auf ihren Plätzen saßen. Sina stützte ihren Kopf auf die verschränkten Finger – und fühlte sich allzu sehr an die eigene dröge Schulzeit erinnert.
Erst am späten Vormittag war ihnen eine zweite Pause vergönnt. Sina wartete wieder eine Weile ab und ging dann ins Kellergeschoss. Diesmal musste sie tatsächlich aufs Klo. Im Waschraum der Damentoilette traf sie auf eine andere Kursteilnehmerin, eine hübsche Blonde, die sich gerade den Lippenstift nachzog. Beide tauschten ein paar Floskeln aus. Dann ging die Frau. Sina war wieder allein. Sie suchte eine der Kabinen auf. Sie genoss es, wenigstens beim Pinkeln nicht die penetrante Stimme des kleinen Italieners hören zu müssen.
Anschließend machte sie abermals ihre Runde durch den Flur. Sie näherte sich der Tür des Tresorraums und konnte es sich nicht verkneifen, am Türknauf zu drehen. Natürlich war der Raum verriegelt.
Das war wohl nichts, dachte sich Sina und wandte sich zum Gehen. Im selben Moment zuckte sie zusammen. Wie aus dem Nichts war di Lorenzo aufgetaucht und stand ihr unmittelbar gegenüber. Seine schwarzen Augen blitzten, als er fragte: »Haben wir uns verlaufen?«
Sina japste nach Luft, so sehr hatte sie sich erschreckt. »Nein«, sagte sie hastig. »Ich war nur auf der Toilette.«
Ihr Gegenüber machte ein Gesicht, als ob ihm
gerade eine Menge durch den Kopf ging, und es sah nicht so aus, als handele es sich dabei um angenehme Gedanken. »Der Kurs geht weiter«, sagte er schließlich streng. Sina kam es so vor, als läge etwas Drohendes in seinem Tonfall.
Sie war eingeschüchtert, wollte es sich jedoch nicht anmerken lassen. »Ja, ja, schon gut. Ich komme mit«, antwortete sie mit aufgesetzter Lässigkeit.
Der kleine Italiener sah sie nachdrücklich an, bevor er zur Seite trat und den Weg freimachte. »Bitte. Gehen Sie voraus.«
Sina gehorchte. Als sie seinen Blick in ihrem Nacken spürte, schauderte sie.
23
Sina war völlig ausgelaugt, als sie die Akademie am späten Nachmittag verließ. Der Kurs hatte sich unendlich in die Länge gezogen. Die letzten beiden Pinkelpausen, die sie noch einlegen konnte, blieben ermittlungstechnisch völlig unergiebig. Außerdem traute sie sich nach ihrer Begegnung mit dem Kursleiter nicht mehr, sich länger als jeweils fünf Minuten im Kellertrakt aufzuhalten. Auch Schmidbauer war nicht aufgetaucht, ebenso wenig wie ein anderer Mann mit einem Akten-oder Pilotenkoffer, der groß genug für einen Goldtransport gewesen wäre.
»Fehlanzeige«, schimpfte sie vor sich hin, während sie mit wütenden Schritten auf den Haupteingang des Tiergartens zuhielt, dem Treffpunkt, an dem Klaus sie nach dem Kursus einsammeln sollte.
Tatsächlich wartete er bereits in seinem Golf und stieg winkend aus, kaum dass er sie erspäht hatte. Sina hatte nicht die geringste Lust auf die Fahrt an Klaus’ Seite und erst recht nicht dazu, ihm von ihrem frustrierenden ersten Tag an der NHA zu berichteten. Aber natürlich musste sie es dennoch tun, denn alles andere wäre unhöflich gewesen. Also pflegte sie die Konversation, während Klaus sie chauffierte.
»Für den ersten Tag war das nicht übel«, meinte er, als Sina geendet hatte.
»Schmeichler«, gab sie etwas bissig zurück.
»Ganz und gar nicht. Du hast zwar keinen Zugang zum Tresorraum bekommen – was nicht anders zu erwarten war –, dafür aber bist du auf zwei schräge Vögel gestoßen, die vielleicht eine wichtige Rolle spielen: der kleine Italiener, wie du ihn nennst, und Oliver Kern, den Geschäftsführer.«
»Na ja«, wiegelte Sina ab. »Dass der Kursleiter nicht ganz sauber ist, mag schon stimmen. Aber Kern wirkt viel zu spießig und pedantisch, um Dreck am Stecken zu haben. Ich glaube, er ist der Saubermann im Unternehmen, der vom Goldschmuggel nichts weiß – wenn es diesen Schmuggel denn überhaupt gibt.«
»Wie dem auch sei, du hast deine Sache gut gemacht«, lobte Klaus.
Sie hielten an einer Ampel, als er überraschend über ihren Arm strich. Sina merkte, wie sich die Härchen auf ihrer Haut aufrichteten. Erst dachte sie, es wäre eine Abwehrreaktion. Aber dann erfasste sie das verwirrende Gefühl, dass sie sein Streicheln als angenehm empfand, ja … prickelnd.
»Soll ich dich bei Gabriele vorbeibringen oder willst du nach dem anstrengenden Tag gleich nach Hause?«, fragte
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