Beiss mich - Roman
einem Ohr den Kopfhörer vom Fernseher, mit dem anderen darauf lauschend, womit sich Martin im benachbarten »Arbeitszimmer« die Zeit vertrieb. Von einem seiner Handys aus – er besaß ein halbes Dutzend davon, jedes unter einem anderen Namen – orderte er im Arbeitszimmer bei irgendwem auf Englisch eine Charge Cabernet de Sauvignon für achtundneunzigtausend Dollar und verscherbelte sie anschließend auf Französisch an jemand anderen für hundertsiebenunddreißig, Lieferung frei Haus. Dann hackte er auf seinem PC herum und rief wenig später jemanden an, den er – wieder auf Englisch – aufforderte, sofort für achthunderttausend in Blue Chips zu gehen und dafür sämtliche Junk-Bonds abzustoßen. Die nächsten zehn Minuten handelte er rund um den Globus mit Wertpapieren, beteiligte sich als Aktionär an einem Börsengang und erörterte mit einer Anwaltssozietät in Kanada juristische Einzelheiten eines Immobiliengeschäfts. Zwischendurch klickte immer wieder die Tastatur von seinem Laptop.
Der Mann war schlicht und ergreifend ein Phänomen.
Zugegeben, er hatte ungefähr achtzig Jahre lang Zeit gehabt, diesen ganzen Kram zu lernen. Doch ob ich das je fertigbringen würde? Vielleicht könnte ich es, überlegte ich, zumindest dann, wenn davon mein Überleben abhinge – vorausgesetzt, ich beschäftigte mich die nächsten zwanzig, dreißig Jahre mit nichts anderem mehr.
Ich nahm den Stöpsel aus dem Ohr und stellte den Ton vom Fernseher aus, dann zog ich das Blatt mit der Übersetzung aus der Hosentasche, klappte es auseinander und tarnte es mit der heutigen Tageszeitung, die ich aufschlug und auf meine Knie platzierte.
Zumindest die Überschriften der Übersetzungen waren identisch. Sie lauteten in beiden Fällen: Die Schwarze Nonne Lucia.
Luigis Text wies immerhin den Vorteil auf, deutlich lesbar zu sein. Er war ordentlich in Book Antiqua getippt und sauber ausgedruckt. Luigi hatte sich auch sonst ziemlich viel Mühe gegeben, das war unverkennbar. Der Text war einzeilig geschrieben und ging über eine ganze DIN -A4-Seite, eine Menge Arbeit für hundert Euro, die Mama ihm nicht mal geben wollte, weil sie nicht an ihrem Idealbild rütteln ließ.
Der übrige Text lautete wie folgt:
Lucia galt unter den Soldaten und Bauern als sanftes Wesen. Ihre Augen waren hell, ihr Haar blond. Doch sie trug ein schwarzes Nonnengewand mit einem Gesichtsschleier, der ihre Züge verbarg. Wenn sie bei den Soldaten war, nahm sie häufig deren Hände oder fasste sie beim Hals. Bei denen, die sehr schwer verwundet waren, biss sie in die Adern am Handgelenk oder am Hals, und dann saugte sie das Blut in sich auf. Wenn die Männer dann am Ende ihres Leidensweges angekommen waren, riss Lucia sich mit den Zähnen eine Ader an ihrer Hand auf und reichte den Kranken das Blut. Manche tranken davon sehr viel. Danach hat sie sich gewaschen, die Hände zum Gebet gefaltet und den Kranken ihr Gesicht gezeigt.
Sie kam an den Abenden und blieb über Nacht. Ihr Erscheinen lag stets nach Untergang der Sonne, und sie blieb während der langen Stunden der Dunkelheit an der Seite der fiebernden Soldaten, und immer ging sie beim Aufziehen der Morgendämmerung.
Sie soll sehr viele behandelt haben. Häufig verschwanden Soldaten und kehrten nie wieder. Sechs Fälle dieser Art wurden mir von Soldaten berichtet. Ich selbst sah sie zweimal bei ihrem verwerflichen Tun. Sie saß bei einem jungen Mann, der aus der Provence stammte und dessen Eingeweide zerfetzt waren. Unter dem Schutz ihres Schleiers beugte sie sich über ihn zum Kuss, und dabei trank sie das Blut von seinen Lippen. Auch diesem Mann gab sie von ihrem Blut, doch er wollte nicht trinken, und deshalb war sein Leiden bald vorbei.
Einem anderen schnitt sie das Hemd vom Hals. Danach saugte sie an der Kehle des Todgeweihten, bis auch dort das Blut hervorlief. Dieser trank dann auch das Blut der Schwarzen Nonne. Ich schlich mich später zu ihm hin, um ihn von seinem verderbten neuen Leben zu erlösen, sodass auch hier das Leiden beendet werden konnte.
Ich überflog die eng beschriebene Seite förmlich. Kein Wunder, dass Mama diese Version nicht schmeckte. Für eine Seligsprechung hätte der Vatikan Lucia wohl nicht in Betracht gezogen. Eher für eine Exkommunikation. Oder Schlimmeres.
Ich vermutete, dass besagter Vikar, der für die erste Übersetzung verantwortlich zeichnete, als Freund der Familie hart um eine möglichst blumige, vieldeutige Fassung gerungen hatte, um den Angehörigen
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