Beiss mich - Roman
schlimmeres Leid zu ersparen. Die vielen Ausstreichungen und Tintenkrakel in der mir bekannten Fassung legten von diesem Bemühen ein beredtes Zeugnis ab.
Jetzt folgten die Stellen, die ich noch nicht kannte, auch nicht in der Ursprungsübersetzung.
Auf der Präfektur wurde meine Anklage nicht beachtet, und auch in der Garnison wollte niemand auf mich hören. Meine Warnungen verhallten ungehört. Doch die Wege des Herrn sind wahrhaft unerforschlich, und so fand man eines Tages die Schwarze Nonne tot in einer Höhle im Wald. Ihre Augen waren ausgestochen, Hände und Füße hatte man ihr abgehackt, ihre Kehle war aufgerissen, und ihre Haut war schwarz verbrannt wie Kohle. Ich will sie in meine Gebete einschließen und ihre Seele, so sie eine solche besessen hat, unserem Herrn anempfehlen.
Dies schrieb Bruder Magnus im Jahre des Herrn 1917.
Ich starrte den Text an, der vor meinen Augen verschwamm.
Oh, verdammt, verdammt, verdammt, dachte ich entgeistert.
Er hatte sie nicht nur getötet, sondern ausgiebig verstümmelt! Dieses … Monster! Solche Gräuel hatte sie nie und nimmer verdient, was auch immer sie angestellt hatte!
»Ich bin gleich so weit!«, rief Martin von drüben.
»Lass dir nur Zeit«, rief ich zittrig zurück. »Der Film ist gerade wahnsinnig spannend!«
Er war schon längst vorbei, aber Martin würde meinen inneren Aufruhr sofort spüren, weshalb auch auf die Schnelle ein guter Grund für meine Verstörtheit hermusste.
Ausgestochene Augen … Abgehackte Hände und Füße … Aufgerissene Kehle … Verbrannte Haut. Mein Gott! Mir war übel. Nein, das konnte er nicht getan haben. Nicht mein Martin, nicht dieser wunderbar zärtliche, durch und durch liebenswerte Mann!
Doch er hatte selbst gesagt, dass er sie umgebracht hatte! Ich wusste nicht mehr, was ich glauben sollte. Dieser komische Bruder Magnus hatte nichts als Lügen verfasst! Oder Luigi hatte seiner Phantasie freien Lauf gelassen!
Doch irgendwie ahnte ich, dass alles, was dort geschrieben stand, den Tatsachen entsprach. Und auch Martin hatte die Wahrheit gesagt, als er mir erzählte hatte, dass er sie getötet habe. Und ich erinnerte mich noch an andere Worte, die er hier zu mir nach meinem ersten Aufwachen gesagt hatte.
Das soll heißen, dass du sterben wirst, wenn du meine Warnung missachtest …
Würde er mit mir dasselbe machen wie mit Lucia, wenn ich Verwandlungen durchführte? Oh, was für ein Schlamassel! Wie sollte ich das jemals mit ihm klären! Wie konnte ich mit einem Mann zusammen sein, der einer anderen Frau das antun konnte!
Fahrig knüllte ich das Blatt zusammen, ebenso wie die Zeitung, mit der vagen Idee, beides ins Feuer zu werfen. Weg damit!, befahl mir eine innere Stimme. Verbrenn es! Verbrenn diese Lügen!
Ich hatte es kaum gedacht, als ich auch schon vor dem Kamin hockte, die Hand mit dem in der Zeitung eingeschlagenen Blatt zum Feuer hin ausgestreckt.
Doch bevor ich das knisternde Papier den Flammen überantworten konnte, hielt ich verblüfft inne. Durch puren Zufall war mein Blick auf eine Schlagzeile gefallen, die außen auf dem zusammengeknüllten Ball zu lesen war. Sie lautete:
Zweites Mordopfer war ebenfalls Fußpfleger.
Ich riss das zerknüllte Papier zurück und starrte die Schlagzeile an. In meinen Ohren rauschte das Blut. Ich las es wieder und wieder.
Zweites Mordopfer war ebenfalls Fußpfleger.
Es waren nur fünf Worte, doch dahinter verbarg sich eine Möglichkeit, die sogar noch schauriger war als die grässliche Untat an Lucia.
Fußpfleger … Fußpfleger … Kleine Scheißer …
Ich schloss die Augen, und vor meinem inneren Auge entstand ein Bild.
Ein Biss im Aufzug. Blut, das aus einem faltigen Hals läuft und auf den Boden tropft. Und jener zweite Biss bis aufs Blut, diesmal in meine Hand …
»Nein«, flüsterte ich, starr vor Grauen.
»Alles in Ordnung?«, rief Martin. Er tippte immer noch.
»Nein!« Ich holte keuchend Luft. »Das heißt ja. Bloß der Film – er wird gerade echt gruselig.«
»Ich höre gar nichts.«
»Es ist ein Stummfilm!«
Fieberhaft glättete ich die Zeitung und las die ganze Meldung.
Zwischen den beiden Mordfällen der vergangenen Woche bestehen nach Ansicht der Ermittlungsbehörden offenbar weitere Parallelen, die über die Ähnlichkeit in der Ausführung der Tat hinausgehen. Die beiden Männer im Alter von 28 und 41 Jahren waren mit durchtrennten Kehlen in ihren Wohnungen gefunden worden. Beide gehörten überdies dem Berufsstand des Fußpflegers an, sodass
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