Beiss mich - Roman
einfach nur verrückt geworden.
Ich könnte unseren späten Gast natürlich auch eines etwas alltäglicheren Verbrechens bezichtigen. Krampfhaft überlegte ich, welche Untat scheußlich genug war, alle Anwesenden davon zu überzeugen, dass dieser Widerling sofort zu verschwinden hatte. Sexuelle Belästigung? Ich sah mich selbst ins Wohnzimmer schreiten, flammend vor Zorn und mit spitzem Finger auf Martin zeigen und ausrufen: Dieser Mann dort wollte mir an die Wäsche gehen!
Wahrscheinlich wären auch hier die Reaktionen geteilt. Ein paar Leute würden schallend lachen, der Rest würde Beifall klatschen. Nur Solveig nicht. Die würde vermutlich nie wieder ein Wort mit mir reden.
Was gab es sonst noch? Rauschgifthandel? Versicherungsbetrug? Steuerhinterziehung? Von den Leuten, die hier zu Gast waren, würde niemand seine Unterhaltung unterbrechen, wenn ich damit kam, egal, wie laut ich es herausschrie.
Blieben noch Kapitalverbrechen wie Mord oder Raub. Eine schwerwiegende Anschuldigung, vor allem, wenn ich keine Einzelheiten zu irgendwelchen Opfern mitteilen konnte.
Um Himmels willen, während ich hier herumlungerte und meinem kaum noch funktionsfähigen Hirn aberwitzige Notfallpläne entrang, stand dieses Ungeheuer auf Tuchfühlung mit meiner besten Freundin herum!
Ich gab mich keinen Illusionen hin. Solveig war für ihn nichts weiter als ein lebendiger Blutbeutel, so viel war sicher. Ich kannte alle einschlägigen Filme und Bücher zu dem Thema. Das Muster war immer dasselbe. Eine hübsche junge Frau, in der Blüte ihrer Jahre, lud den betörend schönen Vampir zu sich ein und fiel ihm binnen kürzester Zeit zum Opfer. Hinterher konnte sie noch von Glück reden, wenn sich jemand bereitfand, ihr einen armdicken Holzpflock ins Herz zu rammen, um sie vom ewigen Dasein als Untote zu erlösen.
Drei Bisse, und es wäre mit ihr vorbei. Das Wichtigste war also jetzt, die beiden im Auge zu behalten. Und zwar jede einzelne Sekunde lang, die der Kerl hier war. Grippe hin oder her, es war eine Tatsache, dass Solveig außer mir niemanden hatte, der sie vor diesem Monster beschützte.
Mein Bruder, der immer noch neben mir stand, schmatzte und schwätzte unablässig, doch ich verstand kein Wort. Die Weinkiste lag schwer in meiner Armbeuge, und das seidene Futter des Capes streifte meine nackte Haut. Ich erschauderte. Wohin mit dem Zeug? Nur schnell weg damit! Ich ließ Lucas stehen, rannte in mein Zimmer und schob meine Last unters Bett, dann eilte ich hinüber ins Wohnzimmer, wo ich, zitternd vor Furcht und Zorn, dicht hinter Solveig und dem Blutsauger Stellung bezog.
Der Kerl hatte es binnen kürzester Zeit geschafft, dass ihm die ganze Runde zu Füßen lag. Sie drängten sich um ihn herum und lauschten seinen lässig hingeworfenen Bonmots. Er machte irgendeine komische Bemerkung zu einem alten Film, und der Regisseur warf den Kopf in den Nacken und brüllte vor Lachen.
Er zitierte feinsinnig aus einem Stück von Shakespeare, und die Schauspielerinnen rückten mit feucht glänzenden Augen näher.
Er parlierte in fließendem Französisch mit der Castingfrau, und das ganze Ensemble hörte hingerissen zu.
Dann kam zu allem Überfluss noch mein Bruder dazu und outete sich beiläufig als Banker, was diesen betrügerischen Beuteldieb dazu veranlasste, ein paar schlaue Kommentare zu einer komplizierten Vorschrift des Wertpapierhandelsgesetzes abzusondern.
Ich hätte mich fast übergeben. Sahen diese armen Idioten nicht, mit wem sie es hier zu tun hatten? Und das Schlimmste war: Solveig klebte in anbetender Pose an seiner Seite und hing förmlich an seinen Lippen!
Plötzlich kam mir ein Gedanke. Waren nicht alle Vampire absolut allergisch gegen jede Art von Nahrung, abgesehen von Blut?
Jemand hatte ihm ein Glas Champagner in die Hand gedrückt, und er führte es von Zeit zu Zeit zum Mund, doch da ich zu dicht hinter ihm stand, konnte ich nicht erkennen, ob er wirklich trank oder nur so tat. Ich reckte den Hals, um bessere Sicht zu haben. Und stolperte prompt gegen seinen Rücken.
Er hatte gerade das Glas am Mund und tat genau das, was ich beabsichtigt hatte. Er verschluckte sich und hustete. Er hörte gar nicht mehr auf zu husten, obwohl ihm der Regisseur leutselig den Rücken klopfte. Ich lauschte mit Frohlocken. Dann verging mir die Schadenfreude, denn er fuhr herum und schaute mich mit brennenden Augen an.
Ich zuckte zurück. »Tut mir leid.«
Er hielt sich die Hand vor den Mund, um den nächsten Hustenanfall unter
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