Bekehrung: Ein Eifel-Krimi (Eifelkrimis) (German Edition)
mein Bruder war ein anziehender Mann. Aber eben mit Leib und Seele Priester. Ehrlich gesagt habe ich mich auch manchmal gewundert, dass er …« Unbehagen breitet sich in dem behaglichen Zimmer aus. Christine Lambert sieht uns verzweifelt an und fährt dann resolut fort: »… dass er so gänzlich unangreifbar war. Er hat eine Entscheidung getroffen, hat er mir mal gesagt, aus freiem Willen und fester Überzeugung …«
Die unvollendete Proklamation bleibt im Raum hängen. Zeit für Fakten.
»Und was hat er den Mädchen gesagt, wenn die ihm ihre Liebe gestanden haben?«, frage ich.
Christine Lambert schenkt mir ein dankbares Lächeln.
»Das hat sich doch keine getraut. Ich habe ihnen klargemacht, dass sie mit ihren Gefühlen selber fertigwerden müssten. Mein Bruder hat so getan, als merke er das alles nicht. ›Das geht vorüber‹, hat er immer gesagt, wenn ich ihn darauf angesprochen habe.«
»Gehörte Babette auch zu diesen Mädchen?«
Sie schweigt einen Augenblick.
» Glaube und Gehorsam war das Motto meines Bruders«, weicht sie aus. »Soweit ich das beurteilen kann, hat sich Babette daran gehalten. Sie war ziemlich verschlossen. Eine Einzelgängerin. Klar, nach allem, was sie durchgemacht hat, da konnte sie nicht mehr so einfach Kind sein. Und sie war hochintelligent. Jean-Marie hat ihr bei den Hausaufgaben geholfen. Er war sehr beeindruckt von ihrem Verstand. ›Die denkt weiter als alles, was ich bisher gelesen habe‹, hat er mal gesagt. Ich weiß noch, da bin ich total erschrocken. Mein Bruder hat so viel gelesen. Woher soll ein Bauernkind aus Atzerath so viel wissen? War schon etwas unheimlich. Irgendwann hab ich dann was über hochbegabte Kinder gelesen. Und sofort an die Babette gedacht. Und dass wir von der später bestimmt noch mal was hören würden. Haben wir aber nicht.«
Ich zähle eins und eins zusammen.
»Sie war vor allem in Physik besonders gut, stimmt’s?«
»Genau«, sagt Christine Lambert verblüfft. »In Religion auch, übrigens.«
Für mich wird das Bild immer deutlicher. Ein pubertierendes Mädchen, das auf fürchterliche Weise seine Familie verliert, findet Halt beim Dorfpfarrer. Er gibt ihr ein Heim und schenkt ihr möglicherweise mehr Aufmerksamkeit, als sie bis dahin gewöhnt gewesen ist. Ich gehe jede Wette ein, dass ihre Schwestern hübscher gewesen sind und Babette in ihrer Familie zu hören bekommen hat, dass es später für sie wohl schwieriger werden würde, irgendeinen Ehemann zu finden. Das hochbegabte Mädchen hat irgendeinen Ehemann möglicherweise nie erstrebenswert gefunden. Sie ist auf der Suche nach einem Stimulans für ihren Intellekt. Den findet sie bei Jean-Marie Lambert. Hungernd nach Geborgenheit und Anerkennung himmelt sie ihn als Wunschvater und Mentor an. Die Physik, das Fach, das ihn selbst am meisten interessiert, wird ihr zur Lebensaufgabe. Der Gottesmann, der den körperlichen Reizen anderer Ministrantinnen mühelos widerstehen kann, ist fasziniert von den Kopfgeburten des traumatisierten Mädchens. Erstmals wird er mit der Erotik des Geistes konfrontiert, und der kann er nicht widerstehen. Er begehrt nicht den Körper, er begehrt das Wesen. Das nun mal leider an einen weiblichen Leib gebunden ist, der nicht nur auch nach Aufmerksamkeit schreit, sondern im Pfarrhaus verfügbar ist. Das Verhängnis nimmt seinen Lauf.
Irgendwann kommt Lambert zur Besinnung, findet die Verwandten Babettes und entledigt sich damit elegant der im Pfarrhaus lebenden Versuchung. Die ihm aber als Dorn im Fleische sitzen bleibt. Er veröffentlicht wissenschaftliche Schriften, sehnt sich einen Sparringspartner herbei, erinnert sich an das junge Mädchen, das weiter denkt, als er je gelesen hat . Was ist wohl aus der geworden?
Als er Jahrzehnte später seine pseudowissenschaftliche Sekte gründet, spürt er Babette auf. Angesichts der pastoralen Autorität des ersten Mannes, der sie ernst genommen hat, sicher viel zu ernst, als es für das einstige Kind gut gewesen ist, verfällt sie wieder in das Abhängigkeitsmuster ihrer frühen Jahre. Die jung Verwaiste lässt sich von Jean-Marie Lamberts angeblich physikalisch und metabolisch gestützter Unsterblichkeitsvorstellung in den Bann ziehen und schließt sich der Sekte an.
Aber weshalb sollte eine intelligente Frau diesen Unsinn mitmachen? Weil der einstige Pastor als Einziger ihr Urvertrauen besitzt. Sie ist erfüllt von archaischer Dankbarkeit zu dem Mann, der sie als Erste erkannt hat, durchaus auch im biblischen Sinne.
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