Bekenntnisse eines friedfertigen Terroristen (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
gespeichert, ob mit oder ohne bewusste Steuerung (durch den Menschen). Vielleicht sind diese Erinnerungen nicht sofort abrufbar, wie im Fall von Spyros Kindheitserlebnis mit dem Stein. Und ganz sicher können wir auf unsere dunkelsten Erinnerungen nicht zugreifen, ohne dabei auf irgendeine Art von Widerstand zu stoßen, etwa ein Trauma. Jetzt kommt mir der Gedanke, dass die Ereignisse des täglichen Lebens einfach nicht viel Bedeutung haben und wir deshalb den Großteil unseres Lebens vergessen.
Mein Special Agent scheint all das zu verstehen. Er ist immer sehr geduldig und entgegenkommend.
Seltsam. Ich glaube, in einem anderen Leben hätten wir Freunde sein können.
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DIE BEIDEN ANZÜGE
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Ich brauche meinem Special Agent nicht zu erzählen, wie Anzüge gemacht werden. Er ist stets exzellent gekleidet, wie ich sicher schon erwähnt habe. Während unserer ersten Reservierung trug er einen Einreiher aus leichtem Wollstoff, luftig genug für den Juni. Jetzt, wo wir fast August haben, hat er ihn gegen ein sommerliches Stück aus dünner Baumwolle eingetauscht. In der linken Brusttasche steckt ein geschmackvoll gefaltetes Tuch. Die Manschetten schauen gerade weit genug aus den Ärmeln heraus. Der Jackettsaum endet exakt am Ansatz der Oberschenkel. Bei einem so großen Mann wie ihm müssen die Proportionen genau ausgewogen sein.
Ich kannte mich aus mit Proportionen, damals 2002. Sie standen an erster Stelle, als ich meine Ideen für Ahmeds Anzüge skizzierte. Die beiden Designs, die sich schließlich herauskristallisierten, machten Anleihen an die Sechziger: ein schmales Revers, eng geschnittene Ärmel, Hosenaufschläge kurz über den Knöcheln. Den Zweireiher würde ich aus hellgrauem Wollstoff mit Plaidkaros zuschneiden. Den anderen, den schwarzen One-Button, würde ich auf der linken Brusttasche mit Ahmeds Initialen in Gold besticken. Das wäre das Bonbon für meinen neuen Kunden, das gewisse Etwas des Jacketts.
AQ, würde da stehen.
Da ich als Junge in Tito Roños Geschäft bloß den Aschenbecher gehalten hatte, war ich in Sachen Herrenkleidungziemlich unsicher. Ich hatte mir die Wahrheit nämlich ein bisschen zurechtgebogen, als ich Ahmed erzählte, ich hätte im Studium Herrenmode entworfen. Im zweiten Jahr hatte ich im Fach Oberbekleidung einmal einen dreiviertellangen Trenchcoat genäht, aber noch nie einen ganzen Anzug! Für die bevorstehende Aufgabe musste ich mich also im Nachahmen üben. Statt eigene Ideen zu entwickeln, lieh ich mir welche. Um ehrlich zu sein: Herrenmode langweilte mich. Meine Welt sind Kleider, und ihnen wandte ich mich auch immer wieder zu, während ich sporadisch an Ahmeds Anzügen arbeitete.
Das Kleid ist ein Auftritt – es ist nur dem Augenblick verpflichtet. Es ist elegant und kurzlebig. Es kann den Körper einer Frau nicht lange halten. Dafür wandeln Frauen sich viel zu radikal. Manche Haute-Couture-Kleider können nur einige Stunden getragen werden, höchstens. Wie heißt es so schön? Eleganz ist ein zu schillerndes Kleid, als dass man wagen könnte, es zweimal zu tragen. 21
Immer, wenn ich ein Stück vollendet hatte, musste ich es in Aktion sehen, in Bewegung, erst dann konnte ich es an die Stange hängen. Das war Teil des Schöpfungsprozesses. Ich brauchte die Meinung eines Frauenkörpers, bevor ich meine Korrekturen vornehmen konnte. Jedes Kleid entwickelte sich ständig weiter, selbst nach dem Laufsteg. Erst wenn ein Stück im Showroom angekommen war, war es wirklich fertig. Schon damals hatte ich es mir zur Gewohnheit gemacht, Olya um ihre Meinung zu bitten. Meinen Schatz Olya, jüngst auf dem Cover der Maxim zu bewundern. Sie war mein Anprobemodell und kam extra nach Bushwick, um meine Kreationen anzuziehen. Ende September 2002 hatte ich neben dem weißen Lagenkleid noch zwei oder drei weitere Looks aus meiner Zeit in Manila weiterentwickelt, die ich an ihr sehen wollte.
Doch Ahmed ließ sich nicht auf die käuflichen hinteren Ränge meiner Prioritätenliste verweisen. Er platzte zielsicher in meine ambitioniertesten Momente hinein.
»Also, Boy, die Gegend hier ist ja schon ein bisschen seltsam«, bemerkte Olya beim dritten Besuch in meinem Studio. Sie zog sich gerade aus.
»Wie meinst du das? So schlimm ist es doch gar nicht. Es liegt doch gleich neben Williamsburg«, sagte ich.
Ich raffte das Lagenkleid zusammen, und Olya hob die Arme. Zusammen zogen wir es über ihren Kopf. Vor dem Spiegel schloss ich den Reißverschluss und nahm ein paar Veränderungen
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