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Bekenntnisse eines friedfertigen Terroristen (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Bekenntnisse eines friedfertigen Terroristen (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Bekenntnisse eines friedfertigen Terroristen (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Gilvarry
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und sehen, ob ich ihm seinen Bluff abkaufte. In einem Anflug jugendlicher Kühnheit bekam ich das Gefühl, ihn unbedingt auf frischer Tat beim Lügen ertappen zu müssen, um mein Unbehagen zu besänftigen.
    »Was sagtest du noch mal, aus welchem Teil von Kanada du kommst?«, fragte ich.
    »Hab ich nicht gesagt.« Ahmed sprach mit vollem Mund und hielt sich höflich die Hand davor. »Warum? Kennst du dich aus in der Gegend?«
    »Ich? Nein. Ich war noch nie in Kanada. Ich hab noch nicht mal eine richtige Winterjacke.«
    »Brauchst du nicht. Zwiebellook! Ich komm aus einem kleinen Nest in Nova Scotia. Rundherum nur Berge, und sechs Monate lang geht die Sonne nicht unter. Und nach den sechs Monaten gibt es einen herrlichen Sonnenuntergang. Dann kommen alle aus ihren Hütten oder ihren Iglus oder weiß der Geier, und wir gucken gemeinsam zu, wie sie untergeht. Das dauert eine Dreiviertelstunde oder so. Und dann ist sechs Monate lang Nacht. Zappenduster. In dieser Jahreshälfte geht dann die Kriminalitätsrate hoch. So ist Kanada.«
    »Faszinierend«, spöttelte ich. »Klingt bloß so gar nicht nach Kanada.«
    »Klingt es, glaub mir.«
    Nach einer Weile gewöhnte ich mich an seine Duftnote, so wie man auch den Geruch in der New Yorker U-Bahn irgendwann nicht mehr wahrnimmt. Wir nahmen Maß. Abgesehen von seinem dicken Bauch, den ich absolut widerlich fand, war Ahmed eigentlich ganz gut in Form. Hastig legte ich das Maßband um seinen Körper. Arme, Beine, Schrittlänge, Brust, Taille, Hals. Mit den Maßen begann das Kleidungsstück in meinem Kopf Gestalt anzunehmen. Ich sah seine Form und Farbe vor mir, dann erste Anklänge des Schnittmusters.
    Jetzt voll in meinem Element, stellte ich mich hinter Ahmed und sah ihn in dem Spiegel an, den wir gegen das Klavier gelehnt hatten. »Der Anzug soll gut sitzen«, sagte ich. »Eine Linie mit der Taille bilden. Das heißt nicht, dass er eng wird. Ich möchte die klassische Form des männlichen Torsos beibehalten und gleichzeitig mit den Konturen deines Körpers arbeiten. Der Anzug darf nicht zu jugendlich wirken. Distinguiert soll er aussehen. Mit deinem Alter verschmelzen, nicht dagegenarbeiten. Dabei kommt es besonders auf das richtige Muster und die Farbe an.«
    »Ja, ja. Das klingt alles ganz wunderbar. Erzähl weiter.«
    »Einen Anzug würde ich gern als Zweireiher arbeiten. Den trägst du mit einer breiten Krawatte. Das wird ein Anzug fürs Geschäft, wie du gestern Abend sagtest. Der zweite wird vollkommen anders. Vielleicht ein One-Button mit großer Öffnung. Was hältst du davon? Du hast einen langen Oberkörper, deshalb positionieren wir den Knopf etwas höher als gewöhnlich, oberhalb des Bauchnabels.« Ich zeigte ihm, wo. »Das gleicht deine Proportionen aus und kaschiert den Bauch. Diesen Anzug kannst du zu einem Geschäftstermin am späten Nachmittag tragen und direkt danach in ein feines Restaurant gehen. Das wird ein vielseitiges Stück. Elegant, und doch schlicht und unkompliziert. Nach dem Dinner kannst du die Krawatte abnehmen und auf einen Drink in eine Bar gehen. Dort fährt dir eine Frau mit den Nägeln über das Revers. ›Anstrengender Tag?‹, fragt sie. Und dann legt sie dir den Kopf an die Schulter und flüstert dir was Verführerisches ins Ohr. ›Komm, wir gehen.‹«
    »Boy, deshalb hab ich dich ausgesucht. Ich wusste, dass du mehr auf dem Kasten hast, als du durchblicken lässt. Woher? Ich bin nicht blöd. Und selbst wenn, würde ich immer noch sehen, dass ich ein Modegenie vor mir habe. Wie? Als ich das schöne Kleid oben bei dir sah, hab ich mir gedacht, wer solche Schönheit erschaffen kann, muss auch von allem anderen ein bisschen Ahnung haben.«
    Dann rief er seinem Assistenten etwas auf Arabisch zu.
    Yuksel kam mit einem weißen Umschlag. Darin war die volle Summe. Zweitausendfünfhundert Dollar in bar. Ahmed fasste nie Geld an.
    Und hier lässt mich mein Gedächtnis im Stich. Was ich mit dem Rest des Tages anstellte, ist eine einzige große Lücke. Seltsam, dass man sich nur an bestimmte Dinge erinnert. Mein Special Agent nennt das selektive Erinnerung.
    Ein Nachtrag zu meiner früheren Theorie über Erinnerung, zu gedachten Gedanken. Wenn man sich an alles aus seiner Vergangenheit erinnern will, setzt man sich einen unerreichbaren Maßstab. Man kann es einfach nicht. Wie ein Schwamm saugt unser Gedächtnis Details auf, die interessant, merkwürdig, angenehm usw. sind. Eine neue Erfahrung hat all diese Eigenschaften, deshalb wird sie vom Gehirn

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