Bel Canto (German Edition)
Probleme als es die eigenen natürlichen Instinkte sind, und legen sie viel schwerer ab.
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Die künftige Gesellschaftsentwicklung wird der gegenwärtigen Tendenz zur Nivellierung des europäischen Menschen folgen. Bis das endgültig erreicht sein wird, steht möglicherweise ein Gegensatz bevor: Persönlichkeiten werden auftauchen und ein Gegengewicht zur nivellierten Schicht bilden.
Bei Nietzsche finden wir diese Gedanken auf eine Art ausgedrückt, die unannehmbar scheint, entweder wegen ihrer Poesie oder umgekehrt wegen der Rücksichtslosigkeit ihres Ausdrucks. Ein Beispiel: der Gegensatz: Herde-Hirt. Entweder wird es zu poetisch oder es wird beleidigend. Die Geburt des neuen Menschen besteht jedoch nicht aus Wortspielen. Sie setzt ungewöhnlichen Druck und Gefahr voraus, die seine Geburt auf die Spitze treiben und beschleunigen werden. Wir können sagen, er entsteht aus »Unglück« und nicht aus dem sogenannten »Glück« einer entarteten Gesellschaft, aus irgendeinem engelhaften Komfort à la Spencer.
Ich studierte nur Philosophie, um einer entschlossenen Dummheit den Vorrang vor verbreiteter Feigheit geben zu können. Damit ich die virtù * bewundere, den Ehrgeiz im Renaissancesinne – Kraft, Kampflust, Erhabenheit, Großmut, Güte, resultierend aus Stärke, Opfermut, der Kunst zu befehlen und zu gehorchen, Verantwortung, Tüchtigkeit; die Summe dieser Tugenden ist so alt wie die Welt selbst, nur die, die diese Tugenden hatten, lebten sie, und befassten sich nicht mit dem geschriebenen Gesetzbuch allgemeiner Moral. Napoleon gab den Anstoß, einen Code civil und nicht einen Code moral zusammenzustellen.
Wir können tatsächlich von scheinheiligem Krämergeist sprechen und von einem Jahrhundert der Dekadenz. An ihr können sich Dichter berauschen, für den Historiker und Philosophen ist das ein Ausrufezeichen für einen gefährlichen Verfallszustand. Wir müssen uns von der Intelligenz abwenden, vom sogenannten geistigen Aufblühen der gegenwärtigen europäischen Gesellschaft. Wir müssen, auch wenn uns das widerstrebt, ihre sublimierte und filigrane Kunst verachten und zu gesunden, natürlichen Instinkten, dionysischen Freuden und anderen Geburtshelfern des Übermenschen zurückkehren.
Im hiesigen Klostergang hängt das Bild eines naiven Künstlers; es stellt die kurzen Freuden des Erdendaseins und die unendlichen Höllenqualen dar – die kurzen Qualen auf der Erde und die ewigen Freuden im Himmel. Ein Bild christlicher Ethik. Die menschliche Existenz ist jedoch selbst so freudvoll, dass durch sie das menschliche Leiden gerechtfertigt wird.
Ich wählte diesen kleinen Kurort zum Aufenthalt, weil ich dachte, hier werde ich in Ruhe und bei günstigen Bedingungen meine Habilitationsschrift beenden können. Ich wollte äußeren Anstößen möglichst lange ausweichen, mich für die Zeit meiner geistigen Schwangerschaft gegen sie verschanzen. Im ersten Monat gelang mir das trefflich. Jetzt merke ich, dass ich mich ablenke. Ich tröste mich damit, dass unter der Oberfläche meine Gedanken mit Gewissheit, wenn auch auf Umwegen, auf meine Aufgabe hinzielen, darauf, was ich werden soll, sein soll.
Das bedeutet nicht, ich will die Welt sehen, wie ich mir wünschte, dass sie wäre, nein, ich will sie sehen, wie sie ist.Dieser Realismus unterscheidet sich von dem der Mehrheit meiner Zeitgenossen. Mein Realismus ist nicht der dekadente Realismus, der Unversöhnliches versöhnt, nicht der alles pazifizierende Realismus. Mein Realismus ist angriffslustig, natürlich auf Grundlage der gegebenen Wirklichkeit, auf die man beherzt bauen will. Ein heroischer Realismus!
Ich will Leben nicht in Großbuchstaben schreiben, wie es die Dichter heute tun, ich gehe wie jeder Realist davon aus, dass es besser ist, das Leben über die Biologie kennenzulernen. Das schließt eine heroische Lebenshaltung nicht aus. Ich verteidige die Bejahung des Seins und des Lebens. Was ist mehr als das Leben? Ich suche keine »ewigen Wahrheiten«, ich suche neue Erkenntnisse und neue Perspektiven. Ich werde für diesen Lebensweg kämpfen. Für mich ist Nietzsches »Übermensch« keine mystische Figur, sondern ganz realistisch, durch Geschichte bewiesen: Napoleon.
Falls es sich ergibt, dass jemand meine Anmerkungen gelesen hat und sie falsch auslegen sollte – ich verlange von niemandem, dass er mein vor Fülle und Stärke berstendes Gefühl billigt. Ich wünsche mir Feinde.
Lieber Leser, zu Beginn dieser Aufzeichnungen wies ich darauf hin, dass
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