Bell ist der Nächste
abschnallte. Ihre Schritte, die den gefliesten Vorraum bis zur Schwelle zum Wohnzimmer durchquerten. Sie kam herein, legte ihre Pistole und ihre Handtasche auf den Couchtisch und setzte sich mir gegenüber in den Sessel.
»David, wir haben doch gesagt, dass du nicht aufbleiben musst.«
»So habe ich das nicht in Erinnerung«, sagte ich.
Sie drehte sich um und sah zu ihrer Tochter hinüber, die auf dem Sofa schlief. Sarah Waishkey – groß, schlank, sechzehn Jahre alt – lag in Jeansshorts und einem weiten weißen T-Shirt zusammengerollt auf der Seite. Ihr langes schwarzes Haar fiel ihr über die Stirn, und ihre Hände lagen, die Handflächen aneinander, unter ihrer Wange. Ich hatte diese Schlafstellung schon einmal gesehen. Sie schlief wie ein Mädchen auf einem Gemälde aus der Renaissance.
»Sie sollte im Bett sein«, sagte Elizabeth mit gedämpfter Stimme.
»Ich habe sie mehrfach ins Bett geschickt, aber sie hat nicht auf mich gehört.«
»Ach nee.«
»Sie hat eben einen starken Willen.«
Das Mädchen ist nicht meine Tochter, so wie Elizabeth nicht meine Frau und ihr Haus nicht mein Haus ist. Aber es ist ungefähr so. Beinahe .
Eine ganze Menge Dinge in meinem Leben sind beinahe .
Vor langer Zeit bin ich einmal mit einem üblen Kerl auf dem oberen Deck eines Parkhauses in einen Kampf geraten. Er starb, und ich wurde beinahe wegen Mordes verurteilt. Letztes Jahr sind Elizabeth und ich einem anderen sehr üblen Kerl in den Wäldern am Marshall Park in die Fänge geraten. Meinetwegen ist sie beinahe umgebracht worden, und auch ich hätte beinahe mit dem Leben bezahlt.
Zurzeit verbringe ich die meisten Nächte in ihrem Bett. Ich esse an ihrem Tisch. Ich bringe ihrer Tochter das Autofahren bei. Und obwohl ihr Haus nicht mein Haus ist, ist es das doch beinahe. Ich komme und gehe, wie ich will. Ich zahle jeden Monat die Hälfte der Hypothek. Im Büro von Gray Streets habe ich immer eine extra Zahnbürste und frische Kleidung zum Wechseln, und an Abenden, an denen ich bis spätnachts arbeite, übernachte ich manchmal dort, auf einem Sofa im Abstellraum. Aber abgesehen davon ist alles, was ich besitze, hier in diesem Haus.
Ich versuche, Abstand zu ihrer Arbeit zu halten. Ihre Kollegen im Polizeidezernat haben unsere Beziehung akzeptiert – beinahe. Aber sie wollen lieber nichts von mir wissen. Das Verbrechen in Ann Arbor ist Elizabeths Angelegenheit, nicht meine. Eigentlich sollte ich sie nicht nach ihren Fällen fragen, und sie sollte mir nichts davon erzählen.
Als sich Elizabeth an jenem Abend in ihrem Sessel zurücklehnte und ihre Tochter neben ihr auf dem Sofa schlief, konnte ich meine Neugierde beinahe zügeln.
»Was hast du über den Mann im karierten Hemd und mit Safarihut herausgefunden?«
Elizabeth berührte die Glasperlenkette an ihrem Hals, bevor sie mir antwortete.
»Er hat eine andere Kopfbedeckung getragen, als er Sutton Bell angegriffen hat«, sagte sie.
»Wie gemein.«
Sie berichtete mir in allen Einzelheiten von der Attacke auf Bell. Es klang nicht so, als hegte sie allzu große Hoffnung, den Mann zu finden.
»Wir hätten seine Fingerabdrücke haben können«, sagte sie, »aber im Eightball Saloon arbeitet offenbar der fleißigste Barkeeper der ganzen Stadt. Er hat, nachdem der Kerl gegangen ist, den ganzen Tresen poliert und das Glas sofort in die Küche gebracht.«
»Vielleicht hat er seine Fingerabdrücke auf dem Manuskript hinterlassen, das ich dir gegeben habe«, sagte ich.
»Vielleicht.« Aber sie war nicht überzeugt. Und ich auch nicht.
»Aufgrund der Aussagen von Bell und anderer Zeugen habe ich eine Personenbeschreibung zusammengestoppelt«, sagte sie, »aber ich weiß nicht, was die am Ende wert sein wird. Wir werden ein Phantombild anfertigen lassen.«
Ich griff nach einem Zeichenblock, der auf dem Couchtisch lag, und schlug ihn auf, bevor ich ihn ihr reichte. Auf der Seite war eine Bleistiftzeichnung des Mannes, den ich auf dem Markt gesehen hatte – mit Hut, Sonnenbrille und allem.
»Hat Sarah das gezeichnet?«, fragte sie.
Ich nickte. »Ich habe ihn ja nur von der anderen Straßenseite aus gesehen. Aber sie hat ihn nach meinen Beschreibungen wirklich gut getroffen: das Kinn, die Form seines Mundes.«
»Das sollte doch helfen.«
Elizabeth legte den Zeichenblock wieder auf den Tisch und griff nach einem Packen Papier, der dort lag – eine Kopie des Manuskripts, die ich noch angefertigt hatte, bevor ich ihr das Original ausgehändigt hatte. Ich war so vorsichtig
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