Bell ist der Nächste
Stirn war tief gefurcht und sein grauer Haarkranz kurz geschoren.
»Ganz früh war schon klar, dass meine Beine mich nie wieder würden tragen können«, erzählte er. »Mein rechter Arm und meine Hand waren schwach, aber die Physiotherapeuten hegten zumindest Hoffnung. Die linke Hand aber blieb nahezu vollständig gelähmt. Meine Frau saß an meinem Bett und überlegte, womit sich ein einarmiger Mann beschäftigen könnte. Es war nicht viel. Aber ›malen‹ gehörte dazu.«
Spencer trank einen Schluck Eistee und stellte das Glas auf der Seitenlehne seines Rollstuhls ab.
»Inzwischen weiß ich, dass Menschen, wenn sie nur entschlossen sind, sogar mit noch weniger zurechtkommen. Wenn ihre Finger nicht mehr funktionieren, dann halten sie den Pinsel eben mit den Zähnen. Aber mir kam damals, als ich mir Gedanken über meine Zukunft machte, der Gedanke, dass ich mir mit einer Hand immerhin eine Pistole an die Schläfe halten könnte. Ich hätte es vielleicht auch getan, wenn ich nicht meine Frau und meine Tochter bei mir gehabt hätte.«
Elizabeth sah zu dem Porträt auf. Ein Ausdruck von Entschlossenheit: fester Blick, gesenktes Kinn, Lippen in gerader Linie aufeinandergepresst.
»Ich habe gehört, dass Ihre Tochter ihr Studium unterbrochen hat, um Ihnen beizustehen«, sagte sie.
»Callie kehrte nach Sault Sainte Marie zurück, um bei uns sein zu können. Ich versuchte, sie davon abzuhalten, aber sie wollte nicht hören. Wir haben aus dem Nähzimmer meiner Frau ein Atelier gemacht, und an den Nachmittagen saß Callie stundenlang Modell für mich. Ich hatte keine Ahnung von Farben oder von Pinselführung. Es herrschte das Prinzip Versuch und Irrtum. Wir haben eine Vereinbarung getroffen – sobald ich ein Porträt malen konnte, das sie zufriedenstellte, würde sie ihr Jurastudium wieder aufnehmen.«
Er machte eine Kopfbewegung in Richtung des Porträts. »Nach vielen Monaten, in denen mir nichts gelingen wollte, war ich tatsächlich einmal erfolgreich. Also hat sie ihr Studium wieder aufgenommen. Und ihre Mutter und ich sind ebenfalls hierhergezogen, damit wir in ihrer Nähe sein konnten.«
Elizabeths Blick fiel auf die Zeitung, die ebenfalls auf dem Tisch lag. Die Story über die Ermordung Henry Kormorans nahm die ganze Titelseite ein.
»Sie haben sich über den Fall informiert«, sagte sie.
»Alte Angewohnheit.«
»Die Zeitung hat unerwähnt gelassen, dass Kormoran eine kleinformatige Reproduktion von Callies Porträt in seiner Wohnung hängen hatte.«
»Das ist interessant.«
»Wo kann er sie herhaben?«
»Ich hatte vor ein paar Jahren eine Ausstellung«, sagte Spencer. »Das Gemälde war damals auch zu sehen, und die Galerie hat die Drucke anfertigen lassen und verkauft. Die Druckerei hat, als Callies Kandidatur für den Senat bekannt wurde, noch einmal eine Serie gedruckt. Inzwischen gibt es das Bild sogar als Postkarte.«
»Können Sie sich vorstellen, warum Kormoran Interesse daran gehabt hat?«
Spencer starrte auf das Bild und überlegte. »Ich glaube, dass er sich auf eine seltsame Weise mit meiner Tochter verbunden fühlte. Er hat mir einmal einen Brief geschrieben und mir mitgeteilt, wie leid ihm seine Beteiligung an dem Überfall auf die Great Lakes Bank tat. Das war nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis gewesen. Kormoran war eine arme Kreatur. Er stammte aus einer guten Familie, und als er in Schwierigkeiten geraten war, schämte sie sich für ihn. Sie besorgte ihm einen Anwalt, der eine Verständigung im Strafverfahren für ihn herausgeholt hat, und nachdem er seine Zeit abgesessen hatte, wollte sie nichts mehr mit ihm zu tun haben. Ich glaube, an diesem Bankraub beteiligt gewesen zu sein war für ihn das Schlimmste, was er je getan hat. Es hat sein Leben ruiniert und seine Beziehungen vergiftet. Callies Erfolg war für ihn eine Art Lichtblick. Es war etwas, das nicht durch sein Handeln kaputt gegangen war. Manchmal ist es bedauernswert, woran wir uns klammern.«
Sein Blick wanderte zu Elizabeth zurück.
»Er tut Ihnen leid«, sagte sie.
»Sie tun mir alle leid. Kormoran, Bell, sogar Dawtrey. Sie waren jung, und sie sind in etwas hineingeraten, das sie sich gar nicht ausgedacht hatten.«
»Immerhin waren sie Anfang, Mitte zwanzig. Glauben Sie nicht, sie hätten es besser wissen müssen?«
Spencer stellte seinen Eistee auf den Tisch.
»Sie sind einem Hochstapler auf den Leim gegangen«, sagte er. »Floyd Lambeau hat eine Menge Leute zum Narren gehalten – und manche von denen
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