Belladonna
sagte sie zu ihm: «Du kannst hier draußen
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sterben. Das Wasser ist kalt genug. Dein Herzschlag wird immer langsamer werden, bis er ganz aufhört. Ich würde sagen, dir bleiben noch zwanzig Minuten, allerhöchstens», sagte sie, obwohl sie wusste, dass es eher ein paar Stunden sein würden.
«Ich werde dic h hier sterben lassen», warnte Sara, und sie war in ihrem ganzen Leben noch nie entschlossener gewesen. «Sag mir, wo sie ist.»
«Ich sag's dir aaam Ufer», flüsterte er.
«Sag es mir jetzt», forderte sie ihn auf. «Ich weiß, dass du sie nicht irgendwo allein sterben lassen würdest.»
«Würde ich auch nicht», sagte er, und etwas wie Verstehen schien in seinen Augen aufzublitzen. «Ich würde sie niemals allein lassen, Sara. Ich würde sie nicht allein sterben lassen.»
Sara streckte die Arme seitlich aus, um ihren Körper in Bewegung zu halten, damit sie nicht erfror. «Wo ist sie, Jeb?»
Es schüttelte ihn so sehr, dass auch das Boot im Wasser bebte und kleine Wellen in Saras Richtung schlagen ließ. Er flüsterte.
«Du musst sie retten, Sara. Du musst sie retten.»
«Sag es mir, oder ich lass dich sterben, Jeb. Ich schwör bei Gott, ich lass dich hier ertrinken.»
Sein Blick schien sich zu umwölken, und ein leichtes Lächeln trat auf seine blauen Lippen. «Es ist vollbracht», flüsterte er und ließ den Kopf wieder sinken. Sara sah, wie er das Boot losließ und wie sein Kopf unter Wasser versank.
«Nein», schrie sie und schwamm zu ihm. Sie packte ihn am Hemdrücken und versuchte, ihn wieder hochzuziehen. Instinktiv setzte er sich zur Wehr und zog sie hinunter, statt sich von ihr nach oben ziehen zu lassen. Sie rangen miteinander. Jeb packte ihre Hose, ihren Pullover, wollte an ihr emporklettern wie auf einer Leiter, um Luft zu bekommen. Seine Fingernägel kratzten über die Schnittwunde an ihrem Arm, und unwillkürlich stieß sie sich von ihm ab. Um Halt zu finden, griffen seine Finger nach der Vorderseite ihres Pullovers.
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Sara wurde nach unten gezogen, als er sich in die Höhe stemmte. Mit einem dumpfen Knall stieß sein Kopf gegen das Boot. Überrascht riss er den Mund auf und rutschte dann geräuschlos zurück unter Wasser. Hinter ihm färbte ein Streifen hellroten Bluts den Bug des Bootes. Sara gab sich alle Mühe, nicht auf den Druck in ihren Lungen zu achten, sondern griff nach ihm und wollte ihn wieder in die Höhe ziehen. Das Sonnenlicht reichte gerade aus, ihn auf den Grund sinken zu sehen. Sein Mund stand offen, die Hände hatte er nach ihr ausgestreckt.
Sie kam an die Oberfläche, rang nach Luft und tauchte dann den Kopf wieder unter Wasser. Das tat sie mehrere Male hintereinander, hielt nach Jeb Ausschau. Sie fand ihn schließlich an einen größeren Felsbrocken gelehnt, die Arme vor sich ausgestreckt. Seine offenen Augen schienen sie anzustarren.
Sara umfasste sein Handgelenk, um zu prüfen, ob er noch lebte.
Sie schwamm an die Oberfläche, um Luft zu holen, bewegte sich auf der Stelle, streckte die Arme zur Seite aus. Ihre Zähne klapperten, aber sie zählte laut.
«Eins - eintausend», sagte sie zähneklappernd. «Zwei -
eintausend.» Sara zählte weiter und trat wie wild Wasser. Sie erinnerte sich daran, als Kind im Wasser ein Fangspiel namens Marco Polo gespielt zu haben. Entweder sie oder Tessa traten dabei Wasser, hatten die Augen geschlossen und zählten wie vorher verabredet bis zu einer Zahl, bevor sie einander suchten.
Bei fünfzig atmete sie tief ein und tauchte dann wieder hinab.
Jeb war noch immer an derselben Stelle, hielt den Kopf im Nacken. Sie schloss ihm die Augen und fasste ihn unter den Armen. An der Oberfläche schlang sie einen Arm um seinen Hals und benutzte den anderen zum Schwimmen. Sie hielt ihn fest und schwamm in Richtung Ufer.
Nachdem scheinbar Stunden vergangen waren, aber es
höchstens eine Minute war, hielt Sara Wasser tretend inne, um wieder zu Atem zu kommen. Das Ufer war nicht näher
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gekommen, sondern schien sich sogar weiter ent fernt zu haben.
Ihre Beine schienen sich vom Körper abgelöst zu haben, obwohl sie ihnen doch befahl, Wasser zu treten. Jeb war nur noch Ballast und zog sie in die Tiefe. Ihr Kopf tauchte unter die Wasseroberfläche, aber sie riss sich zusammen, hustete das Seewasser aus und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen.
Es war so kalt, und sie fühlte sich so schläfrig. Sie blinzelte und gab sich große Mühe, die Augen nicht zu lange geschlossen zu halten. Eine kurze Ruhepause wäre
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