Belladonna
blickte Michael verwirrt zu seinem Vater auf. »Das sind nur Geschichten.«
»Gewiss. Für den größten Teil der Welt sind es nur Geschichten, und du hast hier und dort gehört, wie man sie erzählt, denn über die Jahre haben sie sich über das ganze Land verbreitet. Doch die Geschichten in diesem Buch, das du in der Hand hältst, und die anderen, die noch in der Kiste liegen … In diesen Geschichten liegt die Vergangenheit unsere Familie verborgen. Der Kern jedenfalls, wenn auch nicht die einfache Wahrheit. Kennst du die Geschichte über die Tür der Schlösser? Na ja, so ist es, verstehst du?« Devyn tippte mit einem Finger auf das Buch. »Wir haben alle Schlösser, doch irgendwo unterwegs haben wir den Schlüssel verloren.«
Michael nahm einen großen Schluck Kaffee, um die plötzliche Trockenheit in seiner Kehle zu lindern. Gewissermaßen hatte er einen Schlüssel gefunden, denn er hatte das Gefühl, Glorianna würde die Geschichten seiner Familie besser verstehen, als er es tat. Doch er war sich nicht sicher, ob er wollte, dass sie diese Geschichten kannte. Er war sich nicht sicher, ob er wollte, dass sie irgendetwas anderes war als die Frau, die er letzte Nacht im Pfuhl gesehen hatte - strahlend, lebendig und voll schwelender sexueller Energie.
Gab er ihr die Geschichten nicht, könnte er vielleicht die Frau behalten, die Glorianna war.
Doch um zu überleben, brauchte die Welt die Kriegerin namens Belladonna.
Michael sah Glorianna an und wusste, sie würde ihm niemals verzeihen, wenn er ihr die Antworten vorenthielt, die ihr helfen würden, gegen den Zerstörer des Lichts zu kämpfen. Und trotzdem, eine Geschichte würde er so lange verstecken, wie es möglich war. Doch die andere …
Er räusperte sich, um die Aufmerksamkeit der Leute zu wecken, die um ihn herumstanden. »Bevor wir unsere Reise fortsetzen, würde ich euch gern eine Geschichte erzählen, die in unserer Familie schon seit vielen Jahren überliefert wird.«
Glorianna trat von Lees Insel herunter und ging ein halbes Dutzend Schritte auf ihren Garten zu, bevor sie herumfuhr und stattdessen auf ihr Haus zuhielt. Sie mussten fort; es gab etwas zu erledigen. Doch sie konnte sie nicht zur Weißen Insel führen, wenn sie so aufgebracht war.
»Es tut mir leid, wenn ich dich durcheinander gebracht habe«, sagte Michael, als er zu ihr aufschloss, »und ich werde nicht so tun, als wüsste ich, warum. Es war nur eine Geschichte, Glorianna.«
Sie blieb stehen und sah ihm ins Gesicht. In ihr tobten widerstreitende Emotionen, wie ein stürmischer Kampf zwischen Meer und Küste, und brachten Dinge zum Vorschein, von denen sie nicht gewusst hatte, dass sie sie fühlte, bis Michael ihnen diese Geschichte erzählt hatte.
»Du weißt es nicht!«, rief sie.
»Das sagen Frauen Männern seit Anbeginn der Zeit; gibt es also etwas Bestimmtes, das ich wissen sollte?«
Sie hörte Belustigung in seiner Stimme, doch es war die Trauer in seinen Augen, die sie dazu veranlasste, sich auf die Zunge zu beißen, um die Worte, um die Gefühle gerade lange genug zurückzuhalten, um einen Befehl auszuformulieren. Ephemera, hör mich an. Diese Worte, diese Gefühle sind nur ein Sturm, der durch die hier anwesenden Herzen fährt. Sie verändern nichts.
Nachdem sie wenigstens das getan hatte, um ihre Insel zu schützen, schleuderte sie Michael all das Chaos, das in ihr herrschte, entgegen. »Du erzählst mir eine Geschichte, die in deiner Familie weitergegeben wird, aber du hast keine Ahnung, was sie bedeutet.«
»Das stimmt. Ich weiß nicht, was sie bedeutet. Ich kenne die Antwort nicht.«
»Du bist die Antwort! Glücksbringer. Verwünscher. Magier. Ihr verkleidet es als Geschichte über irgendwelche Geister und magische Hügel - die, wenn man die Abstammung der Wächter und Wahrer betrachtet, die Dinge eigentlich gar nicht so sehr verschleiert. Aber du bist der Geist aus der Geschichte, Michael.« Sie sah den Schreck in seinen Augen und wusste, sie hatte ihn mit einem Stück Wahrheit getroffen, das schwer genug war, doch sie konnte nicht aufhören. »Du bist derjenige, der den Menschen hilft, die Schlüssel in ihren Herzen zu benutzen, um die Tür der Schlösser zu öffnen - um den nächsten Schritt auf der Reise ihres Lebens zu gehen. Um in eine andere Landschaft überzutreten.«
»Wie?«, fragte er. »Wie kann ich ihnen helfen, an einen Ort überzutreten, von dem ich nicht wusste, dass es ihn gibt?«
»Ich weiß es nicht! Eure Landschaften sind nicht
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