Belladonna
welches das Herz eines Mannes erfüllte, wenn er sah, wie sich Tentakel, so dick wie ein Schiffsmast und zweimal so lang, aus dem Wasser erhoben und ein Boot zu Kleinholz zertrümmerten. Niemand hatte sich die Qualen vorgestellt, die es bedeutete, einen Freund zu hören, den ein Tentakel gepackt hatte, und der schrie, während das Leben aus ihm herausgequetscht wurde. Oder schlimmer noch, Knochen brechen zu hören, bevor ein Mann in die See geschleudert wurde, zu schwer verletzt, um sich lange über Wasser halten zu können, geschweige denn, um auf ein anderes Schiff zuzuschwimmen, aber zu nahe an den Tentakeln, als dass jemand den Versuch riskierte, ihn zu retten.
Denn jedes Mal, wenn sie versucht hatten, einen Mann zu retten, verloren sie ein weiteres Schiff.
Also segelten die Überlebenden zurück zum Dorf, während sie andere Männer dem sicheren Tod überließen. Und dieser Schmerz, diese Scham, erfüllte ihre Herzen mit so viel Leid, dass die Dunkelheit ihrer Trauer in das Fundament sickerte, das ihr Dorf beschützte, und alles besudelte, bis man nur an die Möglichkeit eines Unglücks denken musste, damit es auch geschah.
Kapitel 5
Merrill spielte mit dem silbernen Armreif an ihrem Handgelenk, während sie den Stein betrachtete, der eine natürliche, flache Schale bildete. Die Schwestern füllten die Schale jeden Morgen mit Wasser für die Vögel. Brighid, die ihr Oberhaupt gewesen war, bis sie die Schwestern vor sechzehn Jahren verlassen hatte, war auf den Stein gestoßen und hatte um ihn herum diese kleine Meditationsecke eingerichtet.
Doch heute Morgen war Merrill nicht zum Meditieren gekommen. Sie war gekommen, um ihr Herz so wortgewandt zum Licht sprechen zu lassen, wie sie es vermochte. Sie brauchte Hilfe. Sie alle brauchten Hilfe.
Hilf mir, einen Weg zu finden, das Licht zu beschützen. Bitte, hilf mir, einen Weg zu finden.
Sie zog den Armreif vom Handgelenk und legte ihn ins flache Wasser. Er war ein Geschenk von Brighid gewesen, daher schätzte sie ihn höher, als alle ihre anderen Besitztümer. Ihn aufzugeben, schien ein Opfer zu sein, das der Hilfe, die sie suchte, würdig war.
Nicht dass sie wirklich daran glaubte, ihre Gebete oder ein Armreif würden etwas bewirken.
Sie wandte sich vom Becken ab, bevor sie es sich noch einmal anders überlegte und den Armreif wieder an sich nahm, und kehrte auf die Terrasse zurück, die den Blick über die Gärten hinter Lighthavens ausgedehntem Landgut freigab. Vierzig Jahre lang hatte sie auf dem Landgut gelebt und diese Gärten durchschritten. Sie war hier auf der Weißen Insel geboren, hatte die ersten Jahre ihres Lebens in Atwater verbracht, der kleinen Stadt am Hafen, die das Tor zum Rest der Welt bildete. Am Tag nach ihrem zehnten Geburtstag hatte ihr Vater sie nach Lighthaven gebracht und sie bei den Schwestern des Lichts gelassen, in der Hoffnung, sie würde eine von ihnen werden.
Seitdem lebte sie hier, kannte keinen anderen Ort und hatte nie einen gekannt. In all den Jahren, die vergangen waren, seit das Mädchen am Besuchertor gestanden und gespürt hatte, wie ihr Herz sich bei dem Klang auftat, als die Frauen ihre Stimmen zum zeremoniellen Gesang erhoben, war sie kaum über die Grenzen Lighthavens hinausgekommen. Sie bedauerte die Unschuld nicht, die vom Mangel an weltlichen Erfahrungen herrührte. Ein Stück weit war sie sich dessen bewusst, was hinter den Ufern Lighthavens lag - die Welt streifte die Weiße Insel oft genug -, doch diese Dinge hatten sie nie berührt, und so war ihr Herz ein reines Gefäß des Lichts geblieben.
Jetzt fragte sie sich, ob diese Unkenntnis alles dem Untergang weihte, das ihr am Herzen lag.
»Wenn dir die Gärten keinen Frieden schenken«, sagte eine sanfte Stimme hinter ihr, »schenken sie dir dann wenigstens Antworten?«
Merrill drehte sich um und blickte ihre engste Freundin an. Shaela sprach nie von dem Leben, das sie geführt hatte, bevor sie nach Lighthaven kam. Sie hatte nicht einmal erkennen lassen, was ein Mädchen an der Schwelle zum Frausein dazu getrieben hatte, ein Ruderboot zu stehlen und zu versuchen, die Meerenge zu überwinden, welche die Weiße Insel von Elandar trennte. Nie hatte sie gesagt, was die Blindheit in ihrem linken Auge oder die leichte Lähmung ihrer linken Gesichtshälfte und ihres linken Beines verursacht hatte.
Shaelas Körper wies Narben auf, die über die Jahre verblasst, aber nicht völlig verschwunden waren. Und ihr Herz trug Narben, die nie verblassen
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