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Belladonna

Belladonna

Titel: Belladonna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Bishop
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einer abgebrochenen Steinspitze. Seine Augen sahen starr in den Himmel, doch die Finger zuckten, die Hände wollten sich zur Faust ballen. Er war am Leben … noch für einen kurzen Augenblick.
    Als er den Jungen anstarrte, bemerkte Michael, dass er  ein verängstigtes Wimmern hörte. Bemerkte, dass Rorys Beine über den Abgrund hingen.
    »Jungs?«, rief er.
    »Hilfe! Hilfe!«
    Zwei von ihnen klammerten sich an den Beinen ihres Freundes fest. Was wahrscheinlich mit Schuld war an der Steinspitze, die sich durch Rorys Körper gebohrt hatte.
    Während er seinen Mantel auszog und ihn fallen ließ, sah er sich den Rand des Steinbruches an. Es gab jetzt Steinvorsprünge, auf denen er stehen, und Ausbuchtungen, an denen er sich festhalten konnte. Am besten, er rutschte auf dem Bauch über die Kante und ließ sich auf den ersten Felsvorsprung hinunter, was ihn nahe genug an die Jungen heranbringen würde, um sie zu erreichen. Hoffte er.
    In dem Moment, in dem er vorsichtig die Beine über den Rand schob, kamen ihm zwei Dinge in den Sinn: Die Felskante könnte ein wenig zu weit unten liegen, um sich wieder aus dem Steinbruch herausziehen zu können, und er konnte nicht zulassen, dass die Jungen sahen, was Rory zugestoßen war.
    Er packte seinen Mantel. Mit einer Drehung des Handgelenks, um den Stoff auszubreiten, warf er den Mantel über Rory. Dann ließ er sich die Kante hinab.
    Zur ganzen Länge ausgestreckt, die Finger an die Felskante geklammert, berührten seine Füße gerade so den Vorsprung unter ihm. Würde er ihn tragen? Würde er ihn und das Gewicht eines weiteren Jungen tragen? Er musste es. Musste.
    Michael sandte ein Stoßgebet zur Herrin des Lichts, ließ die Steinkante los und landete schwer auf dem Stein unter ihm. Er presste sich gegen die Steinbruchwand, traute sich kaum zu atmen, während er ein paar Augenblicke wartete, um zu sehen, ob der Vorsprung halten würde. Dann zog er seinen Gürtel aus, machte aus einem Ende eine Schlaufe und wickelte sich das Leder ein paar  Mal um die Hand, bevor er das Gewicht verlagerte, um näher an die anderen Jungen heranzukommen.
    So deutlich die Erinnerung bis zu diesem Punkt war, der Rest bestand nur noch aus bruchstückhaften Bildern: Das verängstigte Gesicht eines Jungen, das zu ihm hinaufblickte; das Gewicht, als einer der Jungen seine Hand durch die Gürtelschlaufe steckte und Rorys Bein losließ; die Ankunft seines Freundes Nathan, der nach ihm gesucht hatte; der Ausdruck in den Augen der Männer, die geholfen hatten, die Jungen aus dem Steinbruch zu ziehen - ein Ausdruck, der besagte, sie waren sich nicht sicher, ob sie Michael für seine Hilfe bei der Rettung der Jungen preisen oder ihn für den Sturz verantwortlich machen sollten; die Stimmen der Männer, als sie, halb fluchend, halb weinend, Rory aus dem Steinbruch holten und sahen, welche Verletzungen unter dem Mantel verborgen waren.
    Er blieb lange genug in Ravens Hill, um Rorys Beerdigung beizuwohnen und am Grab bei seiner Tante und den übrigen Dorfbewohnern zu stehen, um der Familie sein Beileid auszusprechen. Am nächsten Tag brach er zu seiner Wanderschaft auf. Sein neuer Mantel war natürlich hinüber, und sie hatten nicht genug Geld, um einen solchen Luxus noch einmal zu bezahlen. Also hatte er sein neues Leben in einem geflickten, gebrauchten Mantel begonnen - und sich gefragt, ob das alles sei, was er verdiente.
     »Es war nicht deine Schuld«, sagte Lee.
    Michael verbarg sein Gesicht in den Händen. Er hatte nicht bemerkt, dass er laut gesprochen hatte, während er jene Erinnerung noch einmal durchlebte. »In Ravens Hill gab es einige, die etwas anderes dachten.«
    »Es war nicht dein Fehler«, sagte Lee erneut. »Wenn du an diesem Tag nicht da gewesen wärst, wären wahrscheinlich alle drei Jungen gestorben.«
    Er erinnerte sich daran, wie Glorianna neben dem Sandkasten gestanden und die Landschaften seines Herzens betrachtet hatte. Zorn schafft Stein. Und Stärke schafft Stein.
    »Also habe ich ein Felsstück durch den Körper eines Jungen getrieben? Ist es das, was du sagen willst?« Das Wissen, vielleicht genau das getan haben zu können, machte ihn krank.
    »Streite nicht mit ihm, Lee«, sagte Sebastian und lehnte sich zurück. »Er ist noch nicht bereit, dir zuzuhören.«
    Eine kalte Stelle auf seinem Rücken. Michael brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass es der Verlust des Gewichts und der Wärme einer Hand war, die auf seinem Schulterblatt gelegen hatte. Diese Wärme hatte ihn

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