BELLAGIO -- Roman (German Edition)
weißt doch, die, die direkt unter mir gewohnt hat.“ Ela ignorierte die schwäbische Anspielung von Chris völlig.
„Klar. Walkitalki-Susi. Cool.“
„Ja. Und gerade hab ich mir vorgenommen, heraus zu finden, was sie jetzt macht. Wo sie wohnt. Wir waren damals unzertrennlich. Schade, dass wir uns so völlig aus den Augen verloren haben.“
„War das deine abF?“ abF, hatte Chris neulich erklärt, hieße ‚aller bester Freund’, Jugendslang. Wenn es um Freundschaften ging, hörte Chris ganz genau zu. Die waren ihm wichtig. Für seine Freunde würde er alles tun. Als Ela vor ein paar Jahren lieber mit ihm in eine Stadtwohnung gezogen wäre, hatte er sich strikt geweigert. Da würde er seine Kumpels nicht mehr sehen, die würden hier in der Vorstadt wohnen. Ela hatte nachgegeben und sie waren geblieben.
Sie waren vor der Wohnungstür ihrer Eltern angekommen. ’Simmler’ stand hier immer noch auf dem goldenen Messingschild wie früher. Hier hatte sich nichts verändert. Hier war es Ela immer, als ob sie ihre Vergangenheit betreten würde, buchstäblich. Sie klingelte.
Ihre Mutter machte schnell auf, sie hatte bestimmt schon auf die beiden gewartet. Sie umarmte Chris, der sich peinlich berührt aus ihrer Umarmung heraus wand. Zu Ela sagte sie nur „Ciao, Kind.“
So war das schon immer gewesen. Obwohl Ela das einzige Kind war, hatte sie von ihren Eltern keine echte Zuwendung erlebt. Vor allem nicht von ihrer Mutter. Obwohl die Italienerin war und das Mamma-Gen eigentlich schon mit der Muttermilch aufgesogen haben müsste. Kein Wunder, dass sie dann Psychologie studiert hatte. Wie die meisten ihrer Kommilitonen wollte auch Ela wissen, warum sie sich nie so richtig wohl in ihrer Haut gefühlt hatte. Außer damals... mit ihm. Aber im Studium wollte sie ihre emotionalen Fragen beantwortet bekommen, einen Weg aus ihren Minderwertigkeitskomplexen heraus finden. Das, was andere Menschen instinktiv richtig machten, musste Ela mühsam lernen und sich antrainieren. Sich behaupten. Sich wehren. Wütend werden. Laut werden. Grenzen setzen. Angreifen. Mit Worten zurück schlagen. Treffen.
Aber das war eben nicht ihr wahres Ich. Das spürte auch Chris. Sie war lieber introvertiert. Wollte alles lieber harmonisch haben. Gab deswegen zu oft nach. War gerne allein. Sie hatte keine Lust, jeden Tag zu kämpfen, immer und immer wieder. Diese Spannung zu halten. Wenn sie aufhörte, sich bewusst zu diesem anderen Verhalten zu zwingen, das ihr nicht mehr allzu schwer zu zeigen fiel und das durchaus schon ein Teil ihrer Persönlichkeit geworden war, schnappte sie in ihr altes Ich zurück. Wie ein Gummiband, das man losließ und das dann in seinen Ursprungszustand zurückschnellte.
„Hallo Mama.“ Ela drückte den Arm ihrer Mutter. Sie selbst konnte einfach nicht so unkörperlich kühl sein, wie ihre Mutter das konnte. Oft hatte sie sich gefragt, woran das wohl liegen mochte, dass ihre Mutter sie offenbar nicht richtig lieben konnte. Die Antwort darauf hatte sie erst spät gefunden. Ihre Mutter hatte es nie thematisiert. Die Antwort hatte ihr geholfen, kein Zweifel. Trotzdem war es schwer für Ela, ihre Mutter so kühl zu erleben, auch heute noch. Trotzdem würde sie es nie verstehen können, dass man sein eigenes und einziges Kind so behandeln konnte.
„Komm rein.“
Ela ging geradeaus ins Wohnzimmer, wo ihr Vater, wie meist um diese Zeit, saß und Zeitung las. „Hallo Papa.“
Ihr Vater sah von seiner Zeitung auf, legte sie ohne hinzuschauen zusammen und sagte im schönsten Ulmer schwäbisch „Grüß de.“
Er stand auf und klopfte Chris auf die Schulter. „So, da bisch du ja, Kerle.“
Da bog schon ihre Mutter um die Ecke.
„Also weißt du, wir verstehen ja wirklich nicht, warum du ganz mutterseelenallein in den Urlaub fahren musst.“ Sie sagte das mit vorwurfsvollem Ton.
Aber Ela wollte sich erst gar nicht auf eine Diskussion einlassen. Sie drehte das Thema in eine andere Richtung. „Du hast doch gesagt, dass ihr Chris für die paar Tage nehmen wollt. Jetzt doch nicht mehr?“
„Ach, darum geht’s doch nicht. Der Chris ist uns doch immer willkommen.“ Dabei zwickte sie ihn in seine volle Wange, die noch etwas vom alten Babyspeck unterlegt war.
„Oma, lass das.“ Peinlich berührt rückte er von ihr ab.
„Was ist denn mit dir los?“, hakte ihr Vater nach.
„Gar nichts. Ich will nur mal raus. Muss mal für ein paar Tage für mich sein. Wegfahren, etwas anderes sehen, neue
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