Benedikt XVI
der
christlichen Religion breit. Was ist da eigentlich passiert?
Zunächst einmal ist es so, dass
die Entwicklung des neuzeitlichen Fortschrittsdenkens und der Wissenschaft
eine Mentalität geschaffen hat, durch die man glaubt, die "Hypothese Gott",
wie Laplace sich ausdrückte, überflüssig zu machen. Heute meint der Mensch all
das selbst zu können, was er früher nur von Gott erwartet hat. Nach diesem
Denkmodell, das sich für wissenschaftlich hält, erscheinen die Dinge des
Glaubens als archaisch, als mythisch, als einer vergangenen Zivilisation
angehörend. Religion, jedenfalls die christliche, wird dann als ein Relikt aus
der Vergangenheit eingeordnet. Schon im 18. Jahrhundert verkündete die
Aufklärung, eines Tages werde auch der Papst, dieser Dalai Lama Europas,
verschwinden müssen. Die Aufklärung werde diese mythischen Rückstände endgültig
beseitigen.
Ist da ein Autoritätsproblem, weil
sich eine liberalistische Gesellschaft nichts mehr sagen lassen will? Oder ist
das auch ein Kommunikationsproblem, weil sich die Kirche mit ihren scheinbar
überkommenen Werten, mit Begriffen wie Sünde, Reue und Umkehr nicht mehr mitteilen
kann?
Es ist beides, würde ich sagen.
Dieses Denken, das so viele Erfolge verzeichnet und viel Richtiges beinhaltet,
hat die Grundorientierung des Menschen zur Wirklichkeit verändert. Er sucht
nicht mehr das Geheimnis, das Göttliche, sondern er glaubt zu wissen: Die
Wissenschaft wird all das, was wir jetzt noch nicht verstehen, irgendwann noch
enträtseln. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, dann beherrschen wir alles.
Auf diese
Weise wurde die Wissenschaftlichkeit die oberste Kategorie überhaupt. Ich habe
neulich lachen müssen. Da wurde im Fernsehen gesagt, es sei jetzt wissenschaftlich
bewiesen, dass die Zärtlichkeit der Mütter für die Kinder nützlich ist. Man mag
solche Untersuchungen für eine Verrücktheit oder einen populistischen und
infantilen Falschbegriff von Wissenschaft halten, aber er zeigt auch ein
Muster an. Eben ein Denken, in dem der Glaube an das Geheimnis, an das Wirken
Gottes, die ganze religiöse Dimension als "nicht wissenschaftlich"
hinfällig geworden ist und keinen Raum mehr findet. Das ist die eine Seite.
Und die andere?
Die andere ist, dass gerade die
Wissenschaft nun auch wieder ihre Grenzen sieht, dass viele Wissenschaftler
heute sagen, von irgendwoher muss das Ganze ja kommen, wir müssen diese Frage wieder
neu stellen. Damit wächst auch wieder ein neues Verstehen des Religiösen; nicht
als eines Phänomens mythologischer, archaischer Natur, sondern aus dem inneren
Zusammenhang des Logos heraus - so, wie das Evangelium eigentlich Glauben
gewollt und verkündet hat.
Aber wie
gesagt, Religiosität muss sich neu regenerieren in diesem großen Kontext - und
damit auch neue Ausdrucks- und Verstehensformen finden. Der Mensch von heute
begreift nicht mehr so ohne Weiteres, dass das Blut Christi am Kreuz Sühne für
seine Sünden ist. Das sind Formeln, die groß und wahr sind, die aber in unserem
ganzen Denkgefüge und unserem Weltbild keinen Ort mehr haben, die übersetzt und
neu begriffen werden müssen. Wir müssen beispielsweise wieder verstehen, dass
das Böse wirklich aufgearbeitet werden muss. Man kann es nicht einfach
wegschieben oder vergessen. Es muss von innen her aufgearbeitet, verwandelt
werden.
Was heißt das?
Das heißt, dass wir wirklich in
einem Zeitalter sind, in dem eine neue Evangelisierung nötig ist; in dem das
eine Evangelium in seiner großen, bleibenden Rationalität und zugleich in
seiner die Rationalität übersteigenden Macht verkündet werden muss, um neu in
unser Denken und Verstehen zu kommen.
Der Mensch
bleibt, bei aller Veränderung, freilich immer auch derselbe. Es gäbe nicht so
viele Gläubige, wenn die Menschen nicht weiterhin im Herzen verstehen würden:
Ja, was da in der Religion gesagt wird, das ist es, was wir brauchen. Die
Wissenschaft allein, so wie sie sich isoliert und autonomisiert, deckt unser
Leben nicht ab. Sie ist ein Sektor, der uns Großes bringt, aber sie hängt
ihrerseits davon ab, dass der Mensch Mensch bleibt.
Wir haben
ja gesehen, dass im Fortschritt zwar unser Können gewachsen ist, aber nicht
auch unsere moralische und menschliche Größe und Potenz. Dass wir wieder ein
inneres Gleichgewicht finden müssen und auch geistliches Wachstum brauchen, das
erkennen wir durch die großen Bedrängnisse der Zeit immer mehr. Auch bei den
vielen Begegnungen mit den
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