Benjamins Gärten (German Edition)
Die Zeit steht still.
»Wie lange sind sie schon tot?«
Ich blicke ihn immer noch nicht an: »Meine Mutter zwei Jahre und mein Vater fast eins.«
Marek nickt, fragt nicht weiter. Ich bin dankbar dafür. Er streichelt meine Schulter, meine Brust. Ich schaffe es, ihn anzusehen.
»Erzähl mir von deinem Haus«, bittet er mich.
Ich beschreibe es. Dass es alt ist, klein, in keinem guten Zustand. Dass ich es liebe.
»Ja«, sagt Marek nur. Dann: »Ich verstehe das.« Er bedenkt mich mit einem Blick, der neu ist. Einem interessierteren, ernsthafteren, aber auch milderen Blick.
»Ich verstehe das«, er wirft einen Blick durch den Raum, über den Staub, den Dreck, die abblätternde Farbe. Holt Luft: »Ich liebe sie auch.« Wir sehen uns an.
Das Handy klingelt wieder. Marek zögert, wühlt dann in seinen Klamotten, findet es. Er klappt es auf, sieht auf die Nummer. Sein Gesicht wird starr, dann nimmt er das Gespräch an. Sagt nur »Ja«, hört lange zu. Dann: »Ja, Mutti«, sein Gesicht weiter starr. Es ist komisch für mich, ihn, einen erwachsenen Mann, »Mutti« sagen zu hören.
Die Stimme am anderen Ende wird lauter, ich verstehe einzelne Worte. Etwas wie: »Du wohnst ja nicht hier«, vorwurfsvoll. Marek wendet sich von mir ab. »Nein, Mutti.« Hört wieder zu. Dann: »Ist gut.« Es klingt wie: »Lass mich in Ruhe«
Er legt auf, stellt das Handy aus, holt Luft, lehnt sich an die Wand.
»Ist was?«, frage ich.
»Nein.«
Ich sehe ihn an. Er beobachtet den Staub in der Luft.
»Was hast du mit diesem Ofen angestellt?«
»Keine Ahnung.« Ich schaue zum Fenster, das Sonnenlicht erreicht nur noch die Laibung, ist golden geworden. Marek starrt auf die Wand hinter dem Ofen.
Ich suche meine Klamotten zusammen: »Ich muss dann mal los.« Ich stehe auf und ziehe meine Unterhose an. Marek umfasst meinen Knöchel, sieht mich an. Ich knie mich wieder hin, ziehe meinen Pullover über, fahre über seine Brust. Marek hört nicht auf, mich anzusehen. Mit einem Blick, der mich unweigerlich an seine Seite zieht.
»Meine Mutter hat Diabetes, weißt du. Sie jammert immer.« Er wartet, bis ich wieder neben ihm liege. Zögert, bevor er den Arm um mich legt. »Sie hockt den ganzen Tag im Haus und bemitleidet sich selbst.«
Vielleicht ist sie kränker, als du glaubst, vielleicht wirst du deine Genervtheit noch bereuen, denke ich, aber ich getraue mich nicht, es zu sagen.
»Und dein Vater?«
»Das Haus ist aufgeräumt bis in die letzte Ecke, er recht jeden Tag den Kies drum herum, schneidet den Rasen an den Kanten mit der Schere und häckelt die Rosen in der schnurgeraden Rabatte. Er hat nichts anderes zu tun und ist froh, wenn er meiner Mutter aus dem Weg gehen kann.«
Mareks Gesicht hat wieder diesen harten Ausdruck. Er nimmt sich die Decke, obwohl es im Zimmer immer noch warm ist. »So will ich nicht enden.«
Aber deine Eltern leben noch, kann ich nur denken.
Marek schaut mich an: »Vergiss es.«
Ich werde es bestimmt nicht vergessen. Ich küsse ihn. Sein Mund wird ganz weich. Er sieht mich an, lächelt: »Benjamin.«
Ich mag, wie er meinen Namen sagt. Ich küsse ihn noch einmal, dann setze ich mich auf: »Kann ich deine Handynummer haben?«
Marek greift nach seinem Shirt: »Ach, lass mal, ich telefoniere nicht gern. Ist auch mehr ein dienstliches Handy.«
Ich starre ihn an. Ein dienstliches Handy, so. Ich kann nicht fassen, was er gesagt hat. Ich wusste noch nicht, dass seine Mutter zu seinen geschäftlichen Kontakten gehört. Und wer ruft ihn noch auf diesem Handy an? Für wen ist diese Nummer verfügbar? Anscheinend nicht für einen kleinen dummen Jungen irgendwo auf dem Land. Ich stehe auf und ziehe mich langsam an. Wie betäubt. Ich trete ans Fenster. Es ist dämmrig geworden. Der verwilderte Garten hinter dem Haus versinkt in Düsternis. Nur irgendwo weit hinten scheint ein kleines Licht zu brennen, das flackert und herumgeistert.
Schatten
Ich gehe einen schmalen Pfad durch die Wiesen entlang. Das Gras steht schon hoch in diesem Jahr, reicht mir bis über die Knie. Die alten Obstbäume rechts und links des Weges blühen. In der einsetzenden Dämmerung leuchten ihre Blüten. Die Blüten der Apfelbäume sind zartrosa. Die der Pflaumenbäume bilden einen weißen Kontrast zur schwarzen Rinde. Die Blüten der Birnbäume sind strahlend weiße Bällchen. Ich springe auf einigen flachen Steinen über den Dorfbach. Bleibe im Schutz der Bäume stehen, zögere.
Marek wollte mich nicht sehen, drei Tage lang. Er habe zu tun.
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