Benkau Jennifer
alle fort. Er selbst nahm sich jede Möglichkeit, den Fluch zu brechen.“
„Kann man es ihm verübeln? Du weißt offenbar nicht, was er durchgemacht hat.“
„Oh, da irrst du dich, Hexe.“ Das letzte Wort klang neutral, ohne einen negativen Unterton. Die Stimme Moiras war leiser geworden. Ernst sah sie in den Wald. „Ich weiß alles. Der Phoenix empfand jedes Gefühl genau wie Samuel es tat. Er erzählte und zeigte es mir. Und wenn ich ‚alles’ sage, Hexe, dann meine ich auch ‚alles‘.“
„Oh!“ Die Vorstellung, dass dieses Kind und ein Vogel intime und höchst delikate Momente live und in Farbe mit angesehen hatten, ließ Helenas Gesicht vor Scham glühen wie eine Neonreklame.
Moira kicherte. „Kein Grund, rot zu werden. Ich wusste schon vorher, wo die Menschenkinder herkommen. Aber darüber wollte ich nicht mit dir sprechen.“
„Sehr beruhigend“, erwiderte Helena. Unter ihren nackten Füßen kitzelte weiches Gras, während sie wiederholt von einem Fuß auf den anderen trat.
„Du musst wissen, dass ich immerzu versucht habe, ihm Hinweise zu schicken“, fuhr Moira fort, mit einer Freude, als diktiere sie einen Einkaufszettel für eine Party. Helena fragte sich, ob das Schicksal Mitgefühl empfinden konnte. Falls sie es tat, verbarg sie es zumindest äußerst geschickt.
„Es ist schwer, in einem Spiel die Karten zu zinken, wenn der Teufel gegen dich spielt. Es war mir nicht erlaubt, Samuel persönlich zu sagen, wie er den Fluch brechen konnte. So musste ich alle Hinweise gut verstecken. Des Teufels Schergen suchten nach ihnen. Sie vernichteten etliche meiner Spuren, mit denen ich Samuel auf den richtigen Weg führen wollte. Andere versteckte ich so gut, dass er selbst sie nicht fand.“
„Hilf mir mal“, unterbrach Helena, da sie fürchtete, den Faden vollends zu verlieren. „Warum hast du ihn verflucht, wenn du danach Himmel und Hö…, ähm … wenn du alles tust, um ihm zu helfen?“
Das Mädchen lachte unbeschwert. „Ich habe ihn nicht verflucht.“
„Ach. Nicht?“
„Aber nein, er war doch mein Auserwählter.“
Warum musste dieses Schicksal so widersprüchlich sein? „Ich dachte, er hätte versagt.“
„Natürlich.“ Moira sprach zu ihr, wie zu einem dummen Kind. „Das ist menschlich. Menschen machen Fehler. Das nimmt man in Kauf, wenn man ihnen Aufgaben gibt. Der freie Wille macht sie doch erst interessant. Manchmal tun sie Dinge, die Situationen lösen, die ich für aussichtslos hielt. Hin und wieder zerstören sie meine Pläne und verursachen Katastrophen.“ Sie lachte, ein Geräusch wie ein Silberglöckchen, doch Helena fand die Sache nicht besonders komisch. „Samuel hat getan, was er konnte. Ich wählte ihn, doch ich wählte falsch. Sein Versagen war die Folge meines Fehlers. Darum habe ich ihn gerettet. Vor der Hölle.“ Moira nickte gewichtig. Die Geste ließ sie wahrhaftig wie ein kleines, altkluges Kind erscheinen. „Der Fluch war der Preis, den der Teufel verlangte, um seine Seele freizugeben, auf dass sie sich bewähren sollte. Er nahm ihm eine Hälfte seines Seins und bot mir die andere an. Beide glaubten wir, die stärkere Hälfte Samuels zu besitzen. Mein Teil seiner Seele war der größere. Der, in dem seine Erinnerungen und ein Großteil seiner Gefühle enthalten waren. Doch der Teufel glaubte, mit seinem Teil das bessere Geschäft gemacht zu haben. Die starken Hass- und Wutgefühle. Ohne ein lästiges Gewissen, demnach ohne jede Grenze. Aus denen“, Moira sah Helena eindringlich an und senkte die Stimme, „konnte er einen Dämon formen. In zwei Teile getrennt hätte Samuel niemals Frieden finden können. Ich forderte den Teufel daher zu einem Spiel heraus, um Samuel vor der Verdammnis zu retten. Die Vereinbarung war, dass Samuel den geraubten Teil seines Selbst finden und wieder in sich aufnehmen musste, um den Fluch zu brechen.“
Helena schluckte gegen einen Kloß im Hals an. „Es ist ihm doch gelungen, oder? Hat er seinen Frieden gefunden?“
Moira zuckte auf unschuldige Art mit den Schultern. „Siehst du ihn hier irgendwo? Ich nicht, was bedeutet, dass er nun vermutlich sterblich, aber für den Moment lebendig ist. In diesem Augenblick kämpft er gegen die ungezügelte Wut des Dämons in sich, nehme ich an.“
Helena schnappte nach Luft.
„Oder er ist bereits auf dem Weg zur Hölle. Aber mache dir keine Sorgen, Hexe.“
„Das sagst du so!“ Helenas Gedanken überschlugen sich. „Ich muss ihm helfen. Bitte, Moira, lass mich gehen.
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