Benkau Jennifer
keine Einhörner und Feen gibt, und sie verlernen, wie man sie sieht. Ich habe mir eingeredet, die Geister würden verschwinden. Habe sie so lange ignoriert, bis sie sich mir nicht mehr gezeigt haben. Das hier“, sie hob das Ledersäckchen auf und schüttelte es aus, sodass der Inhalt klackernd auf die Tischplatte fiel, „sind nur noch alte Knochen.“
„Wenn dem so wäre, würdest du sie wegwerfen“, stellte Samuel fest, während er nach einem der Knöchelchen griff und es zwischen seinen Fingern drehte. „Was ist passiert, dass du dich von deiner Magie abgewandt hast?“
Ein Stöhnen entrang sich ihr. Tränen füllten ihre Augen und sie presste die Lider zusammen. „Ich habe einige Jahre später diese Sache vorhergesehen. Den … Tod meiner … besten Freundin.“
„Und das ist eingetreten.“
Es war keine Frage. Samuel schloss seinen Arm fester um ihren Körper. Im gleichen Moment war ihr klar, dass sie kein Mitleid befürchten musste. Helena hasste Mitleid, weshalb sie nie zuvor über dieses Erlebnis gesprochen hatte. Es zerrte sie nur tiefer in ihr Elend.
„Sie ist nach einem Discobesuch zu einem jungen Mann ins Auto gestiegen. Der Kerl hatte getrunken, fuhr zu schnell und kam von der Straße ab. Vier Wochen lag sie im Koma, dann war es vorbei.“ Es erstaunte sie, wie fest ihre Stimme blieb. In ihrem Inneren heulte sie wie ein Kind, ihr Körper jedoch blieb entspannt. Samuels Ruhe war es, die sie hielt. „Ich hätte es verhindern können.“
„Nein“, flüsterte Samuel und senkte sein Gesicht an ihre Halsbeuge. „Das hättest du nicht.“
„Doch. Denn ich habe ihr nicht gesagt, was die Knochen mir gezeigt haben. Ich hielt es für unmöglich, dachte, ich würde mich irren. Sie wäre vorsichtiger gewesen, wenn ich sie gewarnt hätte. Ich habe meiner Kraft nicht vertraut, und darum musste sie sterben. Ich habe diese Kraft nicht verdient.“
Er streichelte ihr Haar in monotonen Zügen und sprach ebenso ruhig, wie seine Hand sich bewegte.
„Glaub mir eins, Helena. Schlimme Dinge passieren, egal was du tust. Vielleicht musste es so kommen, vielleicht war es …“
„Schicksal?“
Er verspannte sich, sie hörte ihn langsam die Luft durch die Zähne einziehen. „Ja“, sagte er schließlich resigniert. „Das Schicksal darf man nicht brüskieren, indem man seine Pläne infrage stellt. Das zieht Konsequenzen nach sich, die schlimmer sind, als nur zu sterben.“
Helena drehte sich um, sodass sie ihm zugewandt auf seinem Schoß saß. „Du weißt, wovon du sprichst. Nicht wahr?“
Sein Blick wurde kalt, er biss die Zähne zusammen, doch er nickte. In seinen Augen schimmerte Verbitterung, in einer kalten Intensität, die sie erschreckte. Ein Hauch Angst wand sich Helenas Wirbelsäule hoch. Wie winzige, herabrieselnde Steinchen lief ein davon ausgelöster Schauder ihren Körper hinab. Als hätte er ebendies gespürt, rieb er sich übers Gesicht und verwischte den Ausdruck zu reiner Gleichgültigkeit.
Es war der Moment, in dem Helena erkannte, dass es nicht länger sein Geheimnis war, das sie kennen wollte. Sie wollte ihn kennen.
„Ich vermute, dass in deinem Leben etwas sehr, sehr Wunderliches passiert sein muss. Erzähl mir davon. Es macht mir keine Angst.“
„Wunderlich“, wiederholte er tonlos. „Mit Wundern hat das nichts zu tun. Glaub es mir oder glaub es nicht, aber ich habe unser Spielchen gewonnen. Denn ich bin verflucht. Seit fast 122 Jahren.“
Sie glaubte es, denn sie lachte nicht, sondern stieg von seinem Schoß. Langsam, als sei er ein wildes Tier und sie müsse achtsam sein, es nicht zu reizen. Sie setzte sich auf den Boden, die Beine bis an die Brust gezogen und das Kinn auf den Knien abgelegt. Vielleicht wollte sie es ihm damit leichter machen. Vielleicht brauchte sie aber auch die Gewissheit, sich abwenden und gehen zu können. Wahrscheinlicher war es, dass er ihr Angst eingejagt hatte. Der Hund gab ein unsicheres Winseln von sich, blieb aber auf seinem Platz unter der Bank.
Helena sagte nichts, doch ihre Augen schienen dunkler zu werden; ein tiefes Grün, finster wie der Wald, der ihr Häuschen in seinem Inneren versteckte. Welche Emotionen verbarg sie in diesem Dunkel? Ihr Blick war leer und doch forderte er ihn auf, alles zu erzählen. Und so erzählte Samuel von der Winternacht. Er erzählte von seinem letzten Boxkampf und dem Jungen, der er gewesen war. Der Junge, der geglaubt hatte, ein Mann zu sein. Er erzählte von Elisabeths Tod, von dem Blut in ihrem Schoß
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