Benkau Jennifer
und dem Tuch, vollgesogen mit Fruchtwasser. Manchmal glaubte er, es immer noch auf den Lippen zu schmecken, aber das sagte er ihr nicht.
Er erzählte vom Teufel, vom Schicksal und vom Phoenix, mit dem er untrennbar verbunden war seit jener Winternacht. Um die Illusion aus Schmerz, die der Teufel nachts über ihn legte wie eine Decke aus Glut, redete er herum. Sie würde es nicht verstehen. Er verstand es ja selbst nicht mehr, sobald sich die Erinnerungen der Nacht im Morgengrauen auflösten. Doch er erzählte von den lockenden Stimmen, die ihm in diesen Stunden friedvolles Vergessen boten, für den geringen Preis einer nutzlosen Seele. Für einen Moment fühlte er Stolz, weil er dem immer widerstanden hatte und dies ewig tun würde. Er mochte ein Feigling sein. Aber ein Feigling mit Rückgrat.
Zuletzt, denn das war das Schwerste, erzählte er von den Jahren nach der Winternacht. Die Worte kamen ungewollt, er hatte nicht vorgehabt, mit ihr darüber zu sprechen, vor allem nicht so früh. Nein, er wollte nie mehr darüber sprechen. Doch Helena schwieg und sah ihn an, als erwartete sie mehr. Es war fast, als wüsste sie, dass da mehr war, und verlangte still, aber eindringlich danach. Der Drang, diese finstersten Tage seiner Existenz mit ihr zu teilen, überwältigte ihn, sodass er erzählte und erzählte.
„Ab neunzehnhundertzehn lebte ich wieder in der Nähe von München. Es gab niemanden mehr, der mich erkannt hätte. Ich wollte erfahren, was aus meinen Sohn geworden war. Er arbeitete als Schreiner und ich sah ihn manchmal aus der Ferne. Einmal redete ich im Sägewerk mit ihm, nur ein paar Worte über die Qualität des Holzes. Er war klug und fleißig und … Gott, er sah seiner Mutter so ähnlich, dass es schmerzte, ihn anzusehen, und doch wollte ich nichts anderes tun.“ Prompt geriet er ins Stocken. „Ich glaube, er hielt mich für einen Verrückten, weil ich ihn so angestarrt habe. Er ist später ins Ausland gegangen, das haben zumindest seine Nachbarn gesagt. Ich bete heute noch, dass es die Wahrheit war.“
„Du bist geblieben, stimmt’s?“
Es war das erste Mal, dass Helena wieder sprach. Sie stand auf und kam zu ihm, lehnte sich an die Tischkante und berührte seine Schulter. Es war nur ein Streifen ihrer Fingerspitzen.
„Erzähl mir, was später geschah.“
Er räusperte den rauen Klang von seinen Stimmbändern, denn er wusste, was sie mit ‚später‘ meinte. „Als Hitler an die Macht kam, wollte ich zunächst fliehen, denn ich ahnte, dass er der Mann war, von dem Moira gesprochen hatte, und ich wusste, dass uns Schreckliches bevorstand. Schreckliches, das ich zu verantworten hatte. Ich wollte in den Süden, über Österreich in die Schweiz, nach Ungarn oder Italien. Jeden Tag entschied ich, am nächsten aufzubrechen, doch den Mut zu dieser Feigheit hab ich erst viel später gefunden. Wir konnten nicht wissen, wohin dieser Wahnsinn führen würde. Ich hab lange gedacht, dass es schon nicht so schlimm werden würde. Ehrlich gesagt blieb ich, weil ich hoffte, es würde nicht allzu schlimm werden.“
„Aber es wurde noch schlimmer, nicht wahr?“
„Ja, das wurde es. Im Konzentrationslager Dachau, nahezu in unserer Nachbarschaft, wurden die ersten Exekutionen durchgeführt, lange bevor jemand Derartiges in Erwägung zog. Zunächst waren es die politischen Gegner der NSDAP. Dann Insassen der überfüllten Gefängnisse, geistig und körperlich Behinderte, Homosexuelle, Südländer und schließlich Juden. Erst viel später bekamen wir in München eine vage Vorstellung, was innerhalb dieser Zäune geschah. Eine Weile ging ich meiner alten Arbeit als Drucker nach. Ich fälschte Papiere für Juden, die das Land nicht verlassen wollten oder konnten. Trauscheine, Geburtsurkunden, Pässe. Zu der Zeit konnte das richtige Stück Papier einen Menschen noch retten vor den … Arbeitslagern.“ Er spuckte das Wort aus, denn es schmeckte gallig. „Später nicht mehr. Ich war dort, Helena. Es schien mir unvorstellbar, was sie sagten, ich musste es mit eigenen Augen sehen. Und das … das habe ich.“
Samuel wollte sich selbst ins Gesicht schlagen, als die von Worten beschworenen Bilder der Vergangenheit vor seinen Augen in einen höhnenden Tanz verfielen. Er konnte diese Worte nicht mehr zurückhalten. Es war, als hätte eine einzige Berührung Helenas eine unter der Haut schwelende Entzündung aufgebrochen, und nun strömten Blut und Eiter unaufhaltsam hervor. Er erzählte und erzählte und erzählte.
Mit
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