Benkau Jennifer
den Morgen. Er könnte die Gitarre rausholen, sich auf die Veranda setzen und irgendetwas Leichtes spielen. Nicht zu einem bestimmten Zweck, sondern ganz allein für sich. Vielleicht diesen Bon Jovi Song, der …
Mit dem Öffnen der Badezimmertür schlug ihm flackerndes, warmes Licht entgegen und er knallte die Tür vor Schreck wieder zu. Er wagte kaum, die Klinke erneut runterzudrücken. Im Inneren hatte sich alles verändert. Über der Toilette hing ein schweres Tuch aus dunkelrotem Samt, sodass sie eher den Eindruck eines kleinen Tisches weckte. Darauf standen Kerzen, ebenso auf allen anderen Ablageflächen, dazwischen einzelne weiße Lilien. An der Wand hing ein Poster mit einem Engel darauf, einem dieser kitschigen, nackten Putten in Sepiatönen. Auf den Spiegel über dem Waschbecken hatte sie mit Lippenstift und Kajalstift ein Kreuz gezeichnet. Dahinter warf das Glas die Reflexion seines fassungslosen Gesichtes zurück, auf dem das Kerzenlicht spielte und seine Augen glänzen ließ. Die Luft roch nach Fichtennadeln, sodass er mehrmals blinzeln musste.
Die Waffe fiel zu Boden.
Samuel musste den Raum einen Moment verlassen, um sich zum Durchatmen an die Wand zu lehnen.
„Entschuldige“, flüsterte Helena. Sie stand verunsichert in der Tür zum Wohnzimmer und krallte die Hände in den Saum seines Hemdes, das sie übergezogen hatte. „Ich hätte wissen müssen, dass es zu viel Kitsch ist. Ich wollte nicht …“
„Sag nichts, sei still. Komm nur her.“
Sie gehorchte und er presste sie so fest an sich, dass sie unterdrückte Schmerzlaute von sich gab. Sanft wischte er ihr eine Träne aus den Wimpern. Er stammelte: „Danke.“ Zweimal, dreimal, und fand das Wort immer unzulänglicher.
„Ich wollte einen Priester oder so was auftreiben“, sprach sie atemlos an seiner Schulter und gluckste, wobei er die Tränen in ihrer Stimme hörte. „Oder wenigstens einen Thuriferar, der sein Rauchfässchen hätte schwingen können. Aber letztlich ist das Bad zu klein dazu. Außerdem wäre keiner von denen freiwillig mitgekommen. Einen Messdiener zu kidnappen kam mir zu radikal vor. Wie hätte ich das hinterher erklären sollen?“
Samuel wollte weinen und musste lachen. „Mal an die letzten Stunden gedacht, bin ich heilfroh, dass kein Gottesdiener in der Nähe war. Außerdem wäre der danach reif für einen Exorzismus.“
Sie erwiderte das Lachen. Irgendwie.
„Komm, es wird Zeit“, sagte sie schließlich.
Sie führte ihn an der Hand ins Bad und hob die Pistole auf. Sie ließ seine Hand nicht los, sie ließ einfach nicht los. Nicht, als er sich in die Badewanne legte und nicht, als sie ihm die Pistole reichte. Sie hockte sich mit dem Rücken an die Außenseite der Wanne und umklammerte seine Finger wie ein Schraubstock, presste seine Hand gegen ihr Gesicht. Er spürte Tränen. Die Kälte der Keramik nahm er nicht mehr wahr.
„Ich bin soweit“, presste sie hervor. „Tu es.“
Er konnte nicht. Er konnte nicht glauben, wie gut es sich anfühlte, dass sie um ihn weinte. Um den Moment und ein paar Stunden des Todes. Die Tränen waren nicht egoistischer Natur, weil sie ihn nicht freigeben wollte. Sie waren ganz allein für ihn. Gleichzeitig wollte er die Welt in Stücke brechen, wenn es nötig war, um diese Tränen zu verhindern.
„Helena?“ Er entsicherte die Waffe und legte sich den Lauf an die Schläfe. „Du zerdrückst meine Hand.“
Sie presste ein gequältes Lachen hervor, ihre Nägel gruben sich in seine Haut. „Damit musst du leben.“
„Darf ich dich um eines bitten?“ Er hatte keine Ahnung, wie viel Zeit noch blieb. „Bitte geh hinaus, sobald ich geschossen habe. Fahr sofort nach Hause. Ich will nicht, dass du miterlebst, wie ich … brenne.“ Er spürte sie an seinem Handrücken nicken. Der Lauf nahm seine Körperwärme an. „Und sei so gut, keinen Putzfimmel zu bekommen. Der Abfluss macht mir Sorgen, weißt du? Ich kam einmal in der Kanalisation zu mir, aber was passiert, wenn der Abfluss verstopft ist, möchte ich nicht herausfmden.“
„Samuel? Versprich mir auch etwas. Komm zurück, ja? Schwöre mir, dass du zurückkommst.“
Er konnte sich an keinen Tod erinnern, bei dem er nicht gehofft hatte, es möge der Letzte sein. Doch zum ersten Mal seit überhundertzwanzig Jahren wollte er nicht sterben. Nicht heute.
„Versprich es.“
„Immer.“
Der Schuss peitschte die Erleichterung über sein letztes Wort aus ihrem Kopf hinaus und ließ ein Pfeifen in ihren Ohren zurück. Die
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